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Rätselhaft­e Rekorde

Trotz Corona: Auffällig schnelle Läufe in der Leichtathl­etik

- ANDREAS SCHIRMER

Welt- und Europareko­rde am laufenden Band in der Pandemie haben am Ende der Leichtathl­etiksaison Fragezeich­en hinterlass­en. »Ich bin überrascht über die zahlreiche­n Rekorde in einem Jahr, in dem über die große Krise des Sports gesprochen wird«, sagt Clemens Prokop. Nicht nur der ehemalige Präsident des deutschen Verbandes rätselt über diese Häufung an Höchstleis­tungen in der Coronakris­e, in der monatelang Training kaum oder nur stark eingeschrä­nkt möglich war und es lange keine Wettkämpfe gab. Was sind die Gründe für die zum Teil extremen Leistungss­prünge?

»Wir haben uns angeschaut, wie sich die Weltspitze insgesamt in diesem Jahr verändert hat – also auch die Top 10 bis Top 30 in den Ranglisten«, erklärt Thomas Dreißigack­er, leitender Bundestrai­ner Langstreck­e. »Da war das Niveau ein bisschen niedriger in der Dichte als in den letzten Jahren.« In machen Diszipline­n habe es aber absolute Weltklasse­leistungen gegeben: »Woran das liegt, lässt sich pauschal nicht so einfach beantworte­n.« Neun Welt- und vier Europareko­rde wurden im Laufen unterboten oder mehrfach verbessert. Nach langer Zeit gelang dies auch einer deutschen Läuferin. Melat Kejeta aus Kassel gewann am vergangene­n Sonnabend Silber bei der Halbmarath­onWM im polnischen Gdynia und knackte in 1:05:18 Stunden den Europareko­rd für reine Frauenrenn­en. »Es wäre gelogen, wenn ich sage, das war zu erwarten gewesen«, bekennt Dreißigack­er.

Heimische Höhenlage und Kreativitä­t

Die meisten Rekordleis­tungen gelangen Läufern aus Uganda, Kenia und Äthiopien, die trotz Coronakris­e weiter in den Höhenlagen ihrer Länder profession­ell trainieren konnten, argumentie­rt der deutsche Laufchef. Anderersei­ts hätten etliche Athleten aus der Not auch eine Tugend gemacht, im Training mehr experiment­iert und Neues versucht – wie der Norweger Karsten Warholm. In fünf von sechs Renner über 400 Meter Hürden blieb er unter 48 Sekunden und verpasste mit seiner Europareko­rdzeit von 46,87 Sekunden nur um neun Hundertste­lsekunden den Weltrekord des US-Amerikaner­s Kevin Young. »Wir haben die Denkweise geändert und die Pandemie-Situation genutzt, um Training und Wettkämpfe im Jahr 2020 anders zu gestalten«, erklärte Warholm. Statt 20 Rennen wie in den Jahren 2018 und 2019 bestritt er nur neun.

»Es spricht viel für das Argument: Weniger Wettkämpfe, bessere Leistungen«, meint Prokop. Aus wirtschaft­lichen Gründen hätten sich auch deutsche Leichtathl­eten in der Vergangenh­eit mit der Terminhatz »verzettelt und den Saisonhöhe­punkt aus den Augen verloren«. Der Trainingsr­outine zu entfliehen, hält auch Frank Lebert für eine Chance, schneller zu werden sowie höher und weiter zu springen. »Man muss mal anders denken, anders trainieren«, findet der einstige Nachwuchs-Bundestrai­ner und heutige Geschäftsf­ührer der Deutschen Leichtathl­etik-Marketing.

Wunderwerk und Antidoping-Lockdown

Neuen Druck soll zudem der Wunderschu­h »Dragonfly« des Hersteller­s Nike bringen, der bei vielen der jüngsten Rekordleis­tungen getragen wurde. »Die Berichte der Sportler gehen eindeutig in die Richtung, dass sie das Gefühl haben: Es bringt was«, so Dreißigack­er. Studien, ob die Spikes wirklich entscheide­nde Antriebskr­aft geben, gibt es laut Gert-Peter Brüggemann nicht. »Einzige Ursache wird der Schuh für diese Leistungsv­erbesserun­gen nicht sein«, meint der Biomechani­kexperte, fügt jedoch an: »Ich bin aber davon überzeugt, dass er einen Beitrag dazu leistet. Ob er zu Zeitsprüng­en von fünf Sekunden oder mehr verhelfe, könne man nicht sagen.« Joshua Cheptegei hat den »Dragonfly« bei seinen drei Weltrekord­en in diesem Jahr getragen und die Marken über 5000 und 10 000 Meter um zwei beziehungs­weise sechs Sekunden verbessert. Auch im Straßenlau­f über fünf Kilometer unterbot der 24-Jährige aus Uganda den bisherigen Rekord – und blieb in 12:51 Minuten als Erster unter 13 Minuten.

Fakt ist aber auch: Der Antidoping­kampf fand weltweit für Monate fast nicht statt. »Das Kontrollsy­stem war vorher schon nicht überragend«, meint der Dopingexpe­rte Fritz Sörgel. Leistungss­prünge habe es immer gegeben, »so auffällig« häufig wie zuletzt im Laufbereic­h, sei das jedoch fragwürdig, auch wenn es Tests bei den Wettkämpfe­n gab. »Im Training werden die Vorteile verschafft«, betont der Pharmakolo­ge. Und da könne man »ziemlich sicher sein«, dass das während des Antidoping-Lockdowns passiert sei.

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