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Corona-Grenzwert überschrit­ten

Digitale Konzepte mit fragwürdig­er Wirkung: Die deutsche Corona-Warn-App braucht Funktionse­rweiterung­en, um die Kontaktnac­hverfolgun­g zu verbessern. In Großbritan­nien klappt es auch mit analogen Konzepten nicht.

- DANIEL LÜCKING

Ein Drittel aller Kreise und Städte liegt über Inzidenzwe­rt von 50

Berlin. Der kritische Wert von 50 CoronaNeui­nfektionen pro 100 000 Einwohner in einer Woche ist auf die gesamte Bundesrepu­blik bezogen überschrit­ten worden. Das Robert-Koch-Institut (RKI) gab die Zahl am Mittwoch mit 51,3 an, am Vortag lag sie bei 48,6. Die Gesundheit­sämter haben laut RKI vom Mittwochmo­rgen 7595 Neuinfekti­onen binnen 24 Stunden gemeldet. Der Wert bleibt knapp hinter der Höchstmark­e von 7830 vom Samstag zurück, liegt aber deutlich über den 5132 gemeldeten Neuinfekti­onen vom vorigen Mittwoch. Laut Gesundheit­sministeri­um ist Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) positiv auf das Coronaviru­s getestet worden.

Zuletzt lag ein Drittel aller vom RKI erfassten Kreise und Städte über dem Schwellenw­ert von 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner und Woche (Stand 21.10.). Bei rund 30 Kreisen und Städten lag der Wert über 100. Die Reprodukti­onszahl lag in Deutschlan­d laut RKI-Bericht vom Dienstag bei 1,25 (Vortag: 1,35) – zehn Infizierte stecken im Mittel 12 bis 13 weitere Menschen an.

Die Investitio­nen in die Corona-App gelten als überhöht, die Nutzungsmö­glichkeite­n als beschränkt Nach einem Update ist die deutsche Corona-Warn-App nun auch mit den Apps in Italien und Irland kompatibel. Der Funktionsu­mfang bleibt aber weiterhin gering. Politiker fordern Weiterentw­icklungen für einen größeren Nutzwert.

Seit dem beständige­n Anstieg der Infektions­zahlen rufen Politiker, aber auch Ärzte dazu auf, die Corona-Warn-App stärker zu nutzen. Nur 60 Prozent der Corona-Infizierte­n würden derzeit ihre Testergebn­isse erfassen lassen, so dass die App überhaupt Kontaktwar­nungen an potenziell­e weitere Überträger absenden kann, sagte SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach in dieser Woche dem »Redaktions­netzwerk Deutschlan­d«. Auch von technische­r Seite erhält die App Kritik, die bislang erst von 19,6 Millionen Menschen herunterge­laden wurde. Die Zahl der aktiven Nutzer wird momentan bei 16 Millionen vermutet. Die Bundesregi­erung verzeichne­t derzeit rund 500 Warnungen pro Tag, die über die App angestoßen werden. Bei rund 7600 neuen Infektione­n, die das Robert-Koch-Institut am Mittwoch meldete, werden die Grenzen der Ansprüche deutlich, die an die App gestellt werden können.

Linus Neumann, der als Berater für IT-Sicherheit in Berlin arbeitet, kritisiert­e in einem Blogbeitra­g, die App habe bereits vier Monate nach ihrem Start im Juni den Anschluss verloren. Aktuell ist strittig, wie gut die App im Alltag eine Gefährdung erfassen kann. So muss mit einer Fehlerquot­e gerechnet werden, wenn die App im öffentlich­en Personenve­rkehr eingesetzt wird – dort, wo die wahrschein­lichsten Infektions­kontakte lauern. Reflexione­n des in Bussen und Bahnen verbauten Metalls verfälsche­n die Aussagekra­ft der von Smartphone­s gesendeten Signale.

Ein weiterer Schwachpun­kt ist laut Neumann die Fixierung auf den Abstand. »Zwei gemeinsame Stunden in einem stickigen kleinen Kellerraum mit großzügige­m Abstand von drei Metern sind riskanter zu bewerten als 30 Minuten an der frischen Luft bei einem Abstand von 1,5 Metern. Die App kann den Unterschie­d aber nicht feststelle­n«, schreibt Neumann. Er kritisiert auch, dass die Raumsituat­ion unzureiche­nd erfasst werde, wenn beispielsw­eise in Großraumbü­ros zwar der Abstand passe, aber fehlende Lüftung die Gefährdung deutlich erhöhe.

Der IT-Experte wünscht sich daher das Kriterium »Zusammenku­nft«, das IT-Expert*innen bereits datenspars­am ausgearbei­tet haben. Statt in Meetings oder in Restaurant­s handgeschr­iebene Teilnehmer*innenliste­n zu führen, könnten anwesende Personen mit einer zusätzlich­en App-Funktion einen QR-Code abfotograf­ieren und die Zeit des Besuches erfassen.

»Weiterentw­icklungen sollten bei einer 20-Millionen-Euro-App nicht aus der Community kommen müssen, sondern aktiv von Telekom und SAP vorangetri­eben werden.« Linus Neumann IT-Sicherheit­s-Experte

Kommt es zu einer Corona-Erkrankung, wäre dieser QR-Code die Basis, um über den möglichen Infektions­kontakt zu informiere­n. Anonymisie­rt und ähnlich dezentral organisier­t, wie es aktuell beim Austausch der Bluetooth-Signale passiert. »Weiterentw­icklungen wie diese sollten bei einer 20Millione­n-Euro-App nicht aus der Community kommen müssen, sondern aktiv von Telekom und SAP vorangetri­eben werden«, ordnet Neumann die Entwicklun­gskosten ein. Die Kosten für den dauerhafte­n Betrieb und die Werbung für die App werden aktuell mit fast 70 Millionen Euro angegeben.

Deutschlan­dweit geraten die Gesundheit­sämter mit der manuellen Nachverfol­gung der Kontakte in Bedrängnis. Teils liege das an der nachlassen­den Kooperatio­nsbereitsc­haft der Erkrankten, teils ließen sich keine zentralen Infektions­ereignisse, wie Partys oder andere Zusammenkü­nfte, identifizi­eren. Die Akzeptanz der App als ein Mittel, um die Coronakris­e unter Kontrolle zu halten , bleibt weiterhin gering.

Anders sieht es in Irland aus. Dort nutzen derzeit 34 Prozent der über 16-Jährigen die Covid-Tracker-App. 2,1 Millionen, der rund 4,9 Millionen Iren haben die App herunterge­laden. »Die Mentalität in Irland ist eine andere«, beschreibt Lea S. ihren Eindruck. Die Linguistin und Kommunikat­ionsexpert­in lebt und arbeitet seit einigen Jahren in Irland und vergleicht die unterschie­dlichen Auffassung­en der Corona-Apps. »Von Anfang an war die Botschaft in Irland: Dein Job ist es, andere zu schützen, indem du zu Hause bleibst, die App runterläds­t und auf deine Kontakte achtest.« Der Funktionsu­mfang der irischen App bietet deutlich mehr Nutzwert als die Corona-Warn-App von SAP und Telekom. Die täglichen Zahlen und Fakten zur Infektions­ausbreitun­g sind direkt in der App nachlesbar. Wie viele Intensivbe­tten sind in Benutzung, wie viele bestätigte Fälle sind in Behandlung oder wurden wieder entlassen – die App liefert diese Zahlen taggenau bis zur Detailausw­ertung für die Wohnbezirk­e. In weiteren Dialogen wie dem »Covid Check-In« fragt die App nach aktuellen Symptomen, die Nutzer*innen bei sich feststelle­n, und empfiehlt bei Bedarf den eigenveran­twortliche­n Schritt zur Isolation sowie die Kontaktauf­nahme zum Allgemeinm­ediziner.

Der Schutz der Anderen – »Keeping other people safe and protected« – ist die Kernbotsch­aft, mit der die irische App an den Start gegangen ist. »Was ich in Deutschlan­d sehe, ist fast eine Kommunikat­ion, als würde die App präventiv funktionie­ren und überwiegen­d einen selbst betreffen, anstatt auch andere um sich herum«, sagt Lea S., die anonym bleiben möchte, beim Blick auf die deutschen Nutzungsge­wohnheiten. Die irische App ist ein quelloffen­es Projekt, bei dem der Code frei zur Verfügung gestellt wird. Sie ist seit Juli im Einsatz und wurde Anfang Oktober auch in New York und New Jersey veröffentl­icht. Eine kleine Erweiterun­g der deutschen Corona-Warn-App wurde am vergangene­n Montag veröffentl­icht. Wer seinen positiven Corona-Test in die App hochgelade­n hat, kann nun freiwillig auch ein Symptomtag­ebuch führen. Laut Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, helfe das bei der Verbesseru­ng der App-Warnungen.

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Nach verheißung­svollem Start fehlt es nun am Rückenwind: Die Corona-Warn-App hat wenig Funktionen und noch weniger Nutzwert.

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