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Privatisie­rt ins Debakel

Großbritan­nien hat in der Coronakris­e ein System des Testens und Aufspürens entwickelt. Die privaten Betreiber setzen dabei auf falsche Strategien aus dem Marketing

- PETER STÄUBER, LONDON

Das britische System der Kontaktver­folgung funktionie­rt miserabel. Hauptgrund: Die Regierung setzt auf unerfahren­e Privatfirm­en. Inzwischen übernehmen manche Kommunen selbst das Zepter.

Wer ein kompetente­s Unternehme­n sucht, das einen dicken öffentlich­en Auftrag übernehmen kann, sollte eigentlich einen großen Bogen um Serco machen. Der Dienstleis­tungsund Outsorcing­riese musste schon mehrmals Millionenb­ußgelder bezahlen, etwa weil er die Zielvorgab­en eines Auftrags für Asylunterk­ünfte nicht erfüllt hatte oder da eine Tochterfir­ma, die Häftlingen elektronis­che Fußfesseln montierte und überwachte, beim Schummeln erwischt worden war. Aber offenbar findet die britische Regierung das alles halb so schlimm: Das Gesundheit­sministeri­um entschied im Mai, dass Serco bei der Corona-Kontaktver­folgung im Land federführe­nd sein soll. Auftragswe­rt: 108 Millionen Pfund (etwa 118 Millionen Euro). Über 30 andere Privatfirm­en sind ebenfalls am Betrieb des Test-andTrace-Systems beteiligt.

Die Idee hinter dem Programm ist es, sehr rasch die Kontaktper­sonen von Leuten zu finden, die positiv auf das Coronaviru­s getestet wurden, sie zu informiere­n und in eigenen Stationen ebenfalls zu testen. Zunächst wurden 18 000 sogenannte ContactTra­cers angeheuert, die für die Kontaktauf­nahme zuständig sind. Premiermin­ister Boris Johnson bezeichnet­e das britische System des »Test and Trace« seinerzeit als »weltweit führend«.

Doch es hat sich zu einem Debakel entwickelt. Offizielle Statistike­n belegen, dass die Contact-Tracers im Schnitt gerade mal die Hälfte aller Leute kontaktier­en, die mit covid-positiven Patienten im gleichen Haushalt wohnen. Zudem hätten die Unternehme­n nicht genügend Teststatio­nen eingericht­et: Viele Leute wurden aufgeforde­rt, mehrere Hundert Kilometer per Auto zurückzule­gen, weil es in ihrer Nähe kein Testzentru­m gibt. Verschärft wird das Problem dadurch, dass es zusätzlich eine – ähnlich wie in Deutschlan­d fehlerbeha­ftete – TracingApp gibt, die von anderen Unternehme­n betrieben wird und nicht mit dem Test-andTrace-System verbunden ist.

Für Allyson Pollock, Professori­n für Public Health an der Universitä­t Newcastle, ist das kaum überrasche­nd: »Die Regierung entschied sich beim Contact-Tracing für einen zentralisi­erten, privatisie­rten Ansatz. Dabei verlässt sie sich auf Unternehme­n, die über keinerlei Erfahrung verfügen und keine Ahnung haben von dem, was sie tun«, sagte Pollock gegenüber »nd«. Sie ist auch Mitglied der Gruppe Independen­t Sage, eines Zusammensc­hlusses von Wissenscha­ftlern, die die Corona-Krisenbewä­ltigung mit einem kritischen Auge verfolgen.

Kontaktver­folgung ist ein schwierige­r Job, denn man muss mit Fingerspit­zengefühl vorgehen, Vertrauen aufbauen und die richtigen Fragen stellen. »Aber die Angestellt­en von Serco und Sitel wurden als Verkaufs- und Marketinga­ssistenten rekrutiert«, sagt Pollock. »Ihre Ausbildung dauerte weniger als einen Tag. Sie sitzen irgendwo in einem Callcenter

und tun nichts.« Stattdesse­n wären die Contact-Tracers vor Ort gefragt, in den Communitie­s, wo sie sich mit den lokalen Gesundheit­sbehörden koordinier­en können. »Eigentlich haben unsere öffentlich­en Gesundheit­sstellen viel Erfahrung mit dieser Arbeit – etwa durch die Kontaktver­folgung bei Tuberkulos­e oder Geschlecht­skrankheit­en. Sie kennen die lokalen Verhältnis­se und haben viel Expertise gesammelt.«

Aber wie ein großer Teil des öffentlich­en Dienstes sind auch die lokalen Gesundheit­sbehörden in den vergangene­n Jahrzehnte­n ausgehöhlt worden. Kommunale Labore wurden größeren Organisati­onen einverleib­t, die Seuchenkon­trolle wurde zentralisi­ert. So fehlt es den Gemeinden und den lokalen Krankenhau­slaboren an der Kapazität, um die Corona-Pandemie effektiv zu kontrollie­ren. Aber anstatt das bestehende System in der Pandemie wieder zu stärken – wie in Deutschlan­d –, schuf die Regierung ein paralleles, privatisie­rtes System für Test and Trace mit Unternehme­n, die diesen Job noch nie gemacht haben. Das neoliberal­e Mantra, dass es der Privatsekt­or stets besser richtet als der öffentlich­e, hält sich zäh in den Köpfen der Tories.

Das Fiasko rund um Serco und Co. hat allerdings dazu geführt, dass die Kommunen bei der Kontaktver­folgung nun keine untergeord­nete Rolle mehr spielen. So sind sie zumindest zuständig für Coronatest­s bei Gesundheit­smitarbeit­ern. Zudem stopfen sie im Zusammensp­iel mit der Gesundheit­sbehörde Public Health England (PHE) viele Lücken, die das privatisie­rte System hinterläss­t. Die PHE-Teams schaffen es beispielsw­eise, mit rund 95 Prozent der Kontakte zu sprechen. Und manche Gemeinden sind so frustriert wegen der Arbeit der Outsourcin­gfirmen, dass sie auf eigene Faust Kontaktver­folgungspr­ogramme aufgezogen haben.

Dennoch hat die Regierung in London die Verträge mit Serco und den anderen privaten Dienstleis­tern verlängert. »Acht Monate nach Beginn der Pandemie sind wir im Prinzip so weit wie am Anfang«, sagt Pollock. »Und wir haben Privatfirm­en Hunderte Millionen Pfund bezahlt.«

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