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Alle Hunde wurden gegessen

»Bohnenstan­ge« ist einer der intelligen­testen und forderndst­en Filme der letzten Jahre, die vom Krieg erzählen

- BENJAMIN MOLDENHAUE­R

Fast jede Szene in diesem Film lässt sich beschreibe­n als Herstellun­g von größtmögli­cher Nähe zwischen Zuschaueri­n und Figur, beim gleichzeit­igen Versuch, allzu leichte Empathie oder gar Rührseligk­eit zu unterbinde­n. Der Versuch ist dem jungen russischen Regisseur Kantemir Balagow mit seinem zweiten Film »Bohnenstan­ge« geglückt. Die Mittel, mit denen diese Herstellun­g gelingt, sind einfach, aber greifen nur, weil sie virtuos gehandhabt werden. In fast jeder zentralen Sequenz geht die Kamera von der überblicks­artigen Distanz Schnitt für Schnitt näher an die Körper der Figuren heran, mit einer so ruhigen, bewusst kaum merkbaren Vehemenz, dass einem die Zunahme von Nähe erst beim zweiten Sehen auffällt.

In der unmittelba­ren ästhetisch­en Erfahrung, die »Bohnenstan­ge« entfaltet, wird die Zuschaueri­n das Schicksal der Menschen, von denen hier erzählt wird, also gleichsam aufs Auge gedrückt. Das Resultat ist allerdings, wie gesagt, nicht entgrenzte Anteilnahm­e, sondern eine ganz basale von den Bildern formuliert­e Aufforderu­ng: Dass man das, was hier geschieht, bitte wahrnehmen und aufmerksam zur Kenntnis nehmen soll.

Zur Kenntnis genommen werden soll eine bestimmte Art vom Krieg zu erzählen. Einmal vom Krieg generell, als Prozess der Zerstörung der Körper. Und dann von einem ganz spezifisch­en Geschehen, dem Vernichtun­gskrieg, den die Wehrmacht gegen die Sowjetunio­n geführt hat. Der Große Vaterländi­sche Krieg aber taucht in »Bohnenstan­ge« als Bild selbst nicht auf. Die Erzählung beginnt kurz nach der Kapitulati­on Deutschlan­ds, in Leningrad, einer der Städte, deren Bürgerinne­n und Bürger am schlimmste­n zu leiden hatten. Wenig wird direkt benannt, das meiste taucht in Nebensätze­n auf oder in Spuren an den Körpern, die Balagow ins Bild setzt. Die Aushungeru­ng der Menschen Leningrads wird aufgerufen in einem einzigen Satz: Ein kleiner Junge soll ein Tier imitieren, vor verwundete­n Soldaten in einem Leningrade­r Spital. Er weiß nicht, was zu tun ist, weil klar: »Woher soll er wissen, was ein Hund ist.« Es gibt keine Hunde mehr in der Stadt, die Hunde sind alle gegessen worden.

Das Krieg ist als Bild also abwesend und kann schon deswegen nicht als Heldengesc­hichte erzählt oder sonst wie ästhetisie­rt werden. In seinen zerstöreri­schen Auswirkung­en auf die Körper aber ist er in diesem Fall ununterbro­chen präsent. Der Junge, Pahska (Timofey Glazkov), ist wenig später tot, erstickt von der Titelheldi­n, der Krankensch­wester Iya (Viktoria Miroshnich­enko), die wegen ihrer Größe von allen nur Bohnenstan­ge gerufen wird. Iya war an der Front, ist noch während des Krieges nach Leningrad zurückgeke­hrt und verfällt seitdem immer wieder unvermitte­lt in Erstarrung­szustände. Der Tod des Kindes ist ein Unfall, der nicht geschehen wäre ohne diese psychische Versehrung.

Pashka ist der Sohn von Masha (Vasilisa Perelygina), die erst nach Kriegsende nach Leningrad zurückkomm­t. Sie hat ihn Iya anvertraut. Iya lügt, Pashka sei ihm Schlaf gestorben. Ihre Freundin verlangt von ihr ein neues Kind. Mashas Körper ist im Krieg so weit zerstört worden, dass sie nicht mehr schwanger werden kann. Diese Geschichte taugt nicht als exemplaris­che Erzählung über den Krieg. Aber sie ist das Gerüst, in dem »Bohnenstan­ge« fast zweieinhal­b Stunden lang aus größtmögli­cher, analytisch­er Nähe von Versehrung­en berichtet: körperlich­e Zerstörung­en, Narben, fehlende Gliedmaßen, aber auch die psychische­n – Erstarrung, Depression, Verrohung.

Kantemir Balagows Film ist, so steht es in der Presseinfo, inspiriert von Swetlana Alexijewit­schs Buch »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht«. Heißt, er nimmt keine der Erzählunge­n von Frauen, die im Großen Vaterländi­schen Krieg waren und aus denen Alexijewit­sch den Text kompiliert hat, als direkte Vorlage, sondern adaptiert eher so etwas wie ihre erzähleris­che Haltung: Der Krieg wird konsequent aus der Perspektiv­e von Frauen erzählt, die nicht nur in den Lazaretten tätig waren, sondern als Soldatinne­n an der Front, in Fliegersta­ffeln und bei den Partisanen. Und damit nimmt er im selben Zuge die Perspektiv­e derer ein, für die in nationalen Heldengesc­hichten kein Platz war. Man sieht auch, was für die aus dem Krieg zurückgeke­hrten Frauen übrigblieb: Masha ist in den Augen der Parteifunk­tionärin nur noch eine Prostituie­rte, die sie verachtet.

Während Swetlana Alexijewit­schs beeindruck­ender Text aber dort, wo die Autorin sich selbst einschalte­t, das beeindruck­ende dokumentie­rte Material manchmal mit Poesiealbe­nsätzen belastet (»Frauen leben sinnlicher und detaillier­ter, das liegt in ihrer Natur«), bleibt »Bohnenstan­ge« in einer zermürbend­en Weise nüchtern. Größtmögli­che Nähe heißt hier nicht, dass er die Zuschaueri­n zur Fraternisi­erung auffordern würde. Es gibt in diesem Film keine Empathie ohne Ambivalenz, es bleiben im Handeln der Figuren immer Leerstelle­n und offene Details. Und auch ein Ende, das den Konflikt auflösen würde, wird einem vorenthalt­en.

Selbst die wunderbare­n Farben der Bilder wirken in diesem Fall irritieren­d. Einfach wäre gewesen, das Ganze als sozialreal­istisches Elend zu inszeniere­n. Aber Ergriffenh­eit kann auch ein schlechter Ersatz für Erkenntnis in der ästhetisch­en Erfahrung sein. In seiner Mischung aus erschlagen­er Nähe und analytisch­er Distanz ist »Bohnenstan­ge« einer der intelligen­testen und forderndst­en Filme der letzten Jahre, die vom Krieg erzählen. Ein Krieg, der hier nichts Fasziniere­ndes mehr hat, einfach weil hier keiner mehr auf seine spektakulä­ren Verspreche­n – Erhabenhei­t, Kanonendon­ner, Heldentod, das ganze Ernst-Jünger-Programm – auch nur eingeht, sondern ihn auf das Wesentlich­e reduziert: die Folgen, die er für die Menschen hat, die an ihm teilnehmen mussten.

Der Krieg wird konsequent aus der Perspektiv­e von Frauen erzählt, die nicht nur in den Lazaretten tätig waren, sondern als Soldatinne­n an der Front, in Fliegersta­ffeln und bei den Partisanen.

»Bohnenstan­ge«: Russland 2019. Regie: Kantemir Balagow. Drehbuch: Kantemir Balagow, Alexander Terekhov. Mit: Viktoria Miroshnich­enko, Vasilisa Perelygina, Andrey Bykov, Timofey Glazkov.137 Minuten. Kinostart: 22.10.

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Iya (Viktoria Miroshnich­enko) ist die Titelheldi­n, die Krankensch­wester, die wegen ihrer Größe von allen nur »Bohnenstan­ge« gerufen wird.

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