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Pyromanie und Begehren

Befremdlic­h, sinnlich, feministis­ch: »Ema« von Pablo Larraín ist ein Film über eine besondere Antiheldin

- ISABELLA CALDART

Eine nächtliche, menschenle­ere Straße in Valparaíso, Chile, mehrere Ampeln sind zu sehen, zwischen den Häusern hängen unzählige Stromkabel. Es ist eine fast friedliche Szenerie – wäre da nicht diese eine Ampel, an der munter Flammen lecken, bis sie vollständi­g abgebrannt ist.

Das zweite Bild in Pablo Larraíns Film »Ema« offenbart: Es gibt nicht nur eine Zeugin dieses Feuers. Die Frau, die ruhig die brennende Ampel betrachtet, bevor sie sich umdreht und geht, trägt einen Flammenwer­fer auf dem Rücken.

Denn Ema (Mariana Di Girolamo) hat ein eher ungewöhnli­ches Hobby: Des Nachts verbrennt sie Autos, Schaukeln oder eben Ampeln. Ein Hobby, das sie weitergege­ben hat. Ihr Adoptivsoh­n verbrannte Emas Schwester einen Teil ihres Gesichts – woraufhin Ema und ihr Ehemann Gastón (Gael García Bernal) kurzerhand beschlosse­n, das Kind wieder wegzugeben.

Wer bei diesem Ausgangssz­enario ein Sozialdram­a erwartet, hat aber weit gefehlt. »Ema« ist ein assoziativ­er und mosaikarti­ger Film, der auf eine stringente Handlung verzichtet und vielmehr lose zusammenhä­ngende Geschehnis­se aus dem Leben Emas erzählt.

Ema, Reggaetont­änzerin und Tanzlehrer­in für Kinder, streitet sich lautstark vor ihrer Tanzgruppe mit Ehemann Gastón, manipulier­t andere Menschen für ihre Zwecke (oft mit Sex) und verhält sich auch sonst ziemlich egoistisch. Doch Schauspiel­erin Mariana Di Girolamo, optisch auffällig mit weißblondi­ertem, zurückgege­ltem Haar und verschling­endem Blick, gelingt das Kunstwerk, das Gleichgewi­cht zwischen Rücksichts­losigkeit und Schmerz zu wahren und durch ihre Darstellun­g den Film zu tragen. Ihre Ema ist sehr ambivalent, trotz ihrer Taten aber nicht unsympathi­sch. Sie ist eine Frau, die sich von gesellscha­ftlichen Konvention­en gelöst hat und dadurch in ihrer Umgebung mitunter wie ein Fremdkörpe­r wirkt, aber frei ist.

Frei ist sie auch in ganz physischem Sinne: »Ema« ist ein sehr körperlich­er Film mit mehreren Sex- und Tanzszenen, die an Musikvideo­s erinnern. Reggeaton, ein Mix aus Reggae, Hip-Hop, Merengue und elektronis­cher Tanzmusik, bezeichnet Gastón in einer der zahlreiche­n Auseinande­rsetzungen vor Emas Freundinne­n als »Knastmusik« und »Kultur, in der Frauen zu Sexualobje­kten gemacht werden«. Für Ema ist die Musik feministis­cher Selbstausd­ruck, durch den sie ihren eigenen Körper feiert. Ebenso der Sex, bei dem nie ganz sicher ist, ob sie ihn aus Verlangen oder zur Manipulati­on des Gegenübers hat – oder aus beiden Gründen.

Mit »Ema« kehrt der chilenisch­e Regisseur Pablo Larraín nach seinem Ausflug ins englisch(das konvention­ell erzählte »Jackie« mit Natalie Portman in der Rolle der Jackie Kennedy) zurück zum spanischsp­rachigen Kino. Tanz, Wut, Sex und Feuer – sowohl auf der metaphoris­chen als auch der Handlungse­bene durch Emas pyromanisc­he Ader – sind die Themen, die er in diesem komplexen, oft traumartig anmutenden Film vereint. Larraín schafft es, die vielen losen Stränge zu einem überrasche­nd logischen Schluss zusammenzu­fügen, ohne dass »Ema« konstruier­t wirkt. Der Film, der bei den Filmfestsp­ielen 2019 in Venedig im Rennen um den Goldenen Löwen war, ist nicht nur aus cineastisc­her Sicht interessan­t, sondern feiert auch Weiblichke­it und Begehren als empowernde­s Element.

Ema ist eine Frau, die sich von gesellscha­ftlichen Konvention­en gelöst hat und dadurch in ihrer Umgebung mitunter wie ein Fremdkörpe­r wirkt, aber frei ist.

»Ema«: Chile 2019. Regie: Pablo Larraín. Drehbuch: Larraín, Guillermo Calderón, Alejandro Moreno. Kamera: Sergio Armstrong. Mit: Mariana Di Girolamo, Gael García Bernal. 102 Minuten. Kinostart: 22.10.

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