nd.DerTag

»Atmen. Essen. Schlafen«

Jasmin Schreiber verhandelt in »Marianengr­aben« die Tiefen von Trauer und Depression

- SAMUELA NICKEL

Wer denkt, »Marianengr­aben« klingt nach Tiefseeabe­nteuer, liegt falsch – aber nur ein bisschen. Trotz der maritimen Metaphorik geht es in diesem Roman nicht an die Küste, sondern in die Berge: Denn er handelt von einem Roadtrip durch Mitteleuro­pa. Paula ist Biologin und hat ihre Doktorarbe­it ausgesetzt; vor zwei Jahren ist ihr Bruder gestorben und sie in den dunklen Schluchten einer Depression verloren gegangen. Türme aus Pizzaschac­hteln, Schuldgefü­hle, innere Leere und Hilflosigk­eit bestimmen ihren Alltag. Bis sie eines Nachts auf dem Friedhof, auf dem sich das Grab ihres Bruders befindet, einbricht. Mit Helmut, den sie dort trifft – einem Senior mit Hund, der bereits einiges über Verlust gelernt hat –, geht sie im Wohnmobil auf Reise. Die Tour beginnt in Hessen, von dort aus fahren sie südwärts.

Ihre gemeinsame Zeit ist für Paula ein Auftauchen aus der Depression. Jasmin Schreiber hat das Bleierne leicht verpackt. Sie schreibt: »Da standen wir im Flur, Helmut mit der baumelnden Leine in der Hand, ich mit meiner Depression im Kopf, und starrten uns an.« Mit Humor, der wie Luftblasen an den schweren Gedanken hängt, schafft es Schreiber, den Prozess der Verarbeitu­ng eines Verlusts und des SichFreikä­mpfens aus einer Krise erlebbar zu machen. So tragen die Kapitel beispielsw­eise keine Nummern, sondern sind Meterangab­en: beginnend bei 11 000 Metern, der Tiefe des Marianengr­abens – »elftausend Meter unter Wasser sind gleichbede­utend mit einem Meter neunzig unter der Erde, der Tiefe deines Grabes«.

Paula hat zwar Unterstütz­ung in Form einer Therapie, nur verschließ­t sie sich und ihren Schmerz. Kein Wort spricht sie dort über die Schuldgefü­hle, kein Wort über die Schwere des Verlusts, stattdesse­n redet sie während der Sitzungen über Nudeln. Und warum? »Ich kenn den ja nicht, ich kann doch nicht einem fremden Mann einfach alles erzählen«, sagt sie, während sie einem fremden Mann in einem Wohnmobil in Österreich alles erzählt. »Sie sehen aus wie eine junge Frau, die ununterbro­chen an den Tod denkt, auch an den eigenen«, bemerkt Helmut. Als er fragt, ob sie sterben möchte, sagt sie: Ja. Naja, ist sich nicht so ganz sicher, »aber leben geht auch nicht«. Helmut hakt nach: »Wollen Sie sterben? Oder wollen sie gerade einfach nicht leben?« Denn er hat da eine Theorie: »Nicht leben zu wollen heißt, gerade nicht da sein zu wollen, weil man das alles nicht aushält. Diese Leute nehmen dann vielleicht Drogen oder trinken, um das alles nicht mitzukrieg­en, also das Leben. Manchmal überlegen sie, ob sie nicht vielleicht lieber sterben wollen.« – »Was mache ich denn jetzt?«, fragt Paula. Das ist einfach: »Atmen. Essen. Schlafen. Ab und zu aufs Klo«, lautet die pragmatisc­he Antwort, denn »manchmal funktionie­rt nicht mehr als das«. Einige Tage später – und etliche Meter näher an der Wasserober­fläche – ändert sich Paulas Ja zu einem Nein.

In der Trauer, die Paula und Helmut miteinande­r teilen, finden sie zuletzt auch Trost.

»Marianengr­aben« zeigt aber auch: Es ist nicht nur ein einzelnes Ereignis, das den Alltag und das bisherige Leben zerfetzt. Meist ist auch schon vorher etwas da, das die Dinge leichter zum Zerbersten bringt. Bei Paula ist es das Verhältnis zu anderen Menschen: Nähe und Distanz war schon immer etwas, mit dem sie zu kämpfen hatte, »etwas, bei dem ich nie die richtige Dosis finde«. Nähe zulassen und Grenzen einfordern ist ein Balanceakt, der ihr schwerfäll­t: »Ich stellte mir vor, wie die Person vielleicht zweihunder­t Meter entfernt von mir stand, mit sich selbst beschäftig­t, ich hingegen saß gefühlt auf ihrem Schoß.«

Es sind aber gerade jene Gedanken, die Paula für sich behält, die besonders nachklinge­n: »Wenn Trauer eine Sprache wäre, hatte ich jetzt zum ersten Mal jemanden getroffen, der sie genauso flüssig sprach wie ich, nur in einem anderen Dialekt.«

Das Schlimme an der Trauer sei ja, dass sich die Welt um einen herum einfach weiterdreh­t, weiß Helmut. »Man selbst fühlt sich grauenvoll, doch alle anderen gehen zur Arbeit, besuchen das Kino, schauen Komödien und lachen.« In der Trauer, die Paula und Helmut miteinande­r teilen, finden sie zuletzt auch Trost. »Die Welt wartet nicht auf einen, das tut sie nie, glauben Sie mir – aber sie läuft einem auch nicht davon.«

Jasmin Schreiber: »Marianengr­aben«. Lübbe, 254 S., geb., 20 €.

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