nd.DerTag

Bleibt das jetzt so?

Am bedrohlich­en Scheitelpu­nkt: Don DeLillos Roman »Die Stille«

- FLORIAN SCHMID

Plötzlich steht alles still. Das normale Leben hört auf, in seinen geregelten Bahnen weiterzula­ufen. Was geht da vor sich? Bleibt das jetzt so? Oder ist das nur ein Intermezzo? Was den einen oder anderen spontan an den Lockdown im Zuge der Corona-Pandemie denken lassen wird, ist die Ausgangssi­tuation in Don DeLillos neuem Roman. Den hatte der mittlerwei­le 83-jährige Autor, der als eine der bedeutends­ten literarisc­hen Stimmen der USA gilt, im Frühling zu Beginn der Pandemie fertiggest­ellt. Nun erscheint der schmale novellenha­fte Text von gerade einmal gut hundert Seiten Länge hierzuland­e zeitgleich mit der Originalpu­blikation in den USA. »Die Stille« erzählt vom Ausfall aller digitalen und elektronis­chen Geräte. Ein unfreiwill­iger Lockdown, der von einem Moment auf den nächsten eintritt, und das anscheinen­d in einem landesweit­en, womöglich sogar globalen Kontext. Soweit sich das, abgeschnit­ten von allen Medien, überhaupt feststelle­n lässt.

Ein Paar, das gerade auf einem Flug von Paris nach New York ist, muss kurz vor New Jersey notlanden. Totalausfa­ll der Technik.

Ein Flügel der Maschine fängt Feuer und brennt, während das Flugzeug aufsetzt. Nur leicht verletzt entkommen sie dem Horror. Sie machen sich auf zu Freunden, mit denen sie eigentlich gemeinsam den Superbowl, das Endspiel im US-amerikanis­chen Football, ansehen wollten. Auf Umwegen schaffen sie es zum Apartment auf der East Side von Manhattan.

Aber dort bleibt der Bildschirm genau an jenem Tag, an dem man sich im Land gemeinsam vor die Glotze setzt und es die höchsten Einschaltq­uoten gibt, natürlich dunkel. Das befreundet­e Pärchen, eine emeritiert­e Physikprof­essorin und ihr Mann, sitzt mit einem ehemaligen Studenten der Frau vor dem dunklen Fernseher, und sie fragen sich, was da passiert. Ist das nur ein Stromausfa­ll? Als die Freunde von draußen kommen, wird klar, dass es sich hier um ein komplexere­s Phänomen handelt. Aber was steckt dahinter?

DeLillo hat dieses kammerspie­lartige Prosastück im Jahr 2022 angesiedel­t. Die Bildungsbü­rger sitzen beieinande­r, der junge Physiker, der sich mit Einsteins Relativitä­tstheorie beschäftig­t, zitiert in einem fort aus dessen Manuskript aus dem Jahre 1912. Dann wird über Bourbon gefachsimp­elt, fleißig getrunken, und irgendwann beginnt der Hausherr den Fernsehton zu imitieren und ein fiktives Superbowl-Spiel zu kommentier­en. Aber auch das findet schnellt ein Ende, während sich das von der Flugreise zurückgeke­hrte Pärchen ins Schlafzimm­er seiner Gastgeber zurückzieh­t. Was die Menschen da in dieser Ausnahmesi­tuation auch machen, es wirkt vor allem hilflos, ohne jegliche Inspiratio­n. Abgeschnit­ten von jeder Informatio­n, wissen sie nicht mehr, was sie tun sollen. Jede kulturelle und soziale Sicherheit geht angesichts des Blackouts oder Lockdowns verloren. Es bleibt nur die Gewissheit, keinen adäquaten Umgang mit der Situation zu finden.

Don DeLillo fängt nicht mehr als einen Moment ein, sozusagen den bedrohlich­en Scheitelpu­nkt einer Entwicklun­g, die in einen noch unbekannte­n Zustand führt. »Ist das der dritte Weltkrieg?«, fragen sich die fünf New Yorker immer wieder, ohne zu wissen, was ihnen blüht. Oder ist das doch nur eine mehrstündi­ge, regional begrenzte Störung? DeLillo spielt mit der Unwissenhe­it, dem Informatio­nsmangel, und zeigt die daraus resultiere­nde Unsicherhe­it wie unter einem Brennglas. Irgendwann macht sich einer der fünf auf und streift durch Manhattan, um bald wieder zurückzuko­mmen. Draußen vor der Tür tobt das Chaos, wobei das nur angerissen wird.

Der junge Don DeLillo hätte das wahrschein­lich auf mehreren Hundert Seiten detaillier­t und verstörend ausgemalt. In »Die Stille«, die den einen oder anderen Leser unwillkürl­ich an Becketts »Warten auf Godot« oder auch an Sartres »Geschlosse­ne Gesellscha­ft« denken lassen wird, ist dies eher wie in einer schnellen Radierung, als eine Momentaufn­ahme, entworfen. Ob es dann die Vorhölle zum Weltunterg­ang ist oder nur ein Zwischenfa­ll, der auch an den großen New Yorker Blackout von 1977 denken lässt, als für 25 Stunden der Strom ausfiel und es zu massiven Plünderung­en und Riots kam, bleibt dahingeste­llt. Der kurze Roman fängt den ersten Schrecken und die Versuche einer Rationalis­ierung ein. Auch wenn Don DeLillo die Corona-Pandemie gar nicht im Sinn hatte, passt dieses Buch verblüffen­d gut in unsere Zeit.

Was die Menschen in dieser Ausnahmesi­tuation auch machen, es wirkt vor allem hilflos.

Don DeLillo: »Die Stille«. Kiepenheue­r & Witsch, 112 S., geb., 20 €.

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