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Wer gibt, wer nimmt?

Ist dies ein Agitpropfi­lm, der uns mit Schockbild­ern zu Vegetarier­n bekehren will? Der Dokumentar­film »Regeln am Band, bei hoher Geschwindi­gkeit«

- GUNNAR DECKER

Es surrt, eine Säge vielleicht, dazwischen Menschenst­immen. Die fernen Geräusche einer Fabrik. Einer Fleischfab­rik, um genau zu sein. Wir sehen drei Schweine in einer Box, die mit wissenden Augen in die Kamera blicken und mit einem kleinen gelben Ball spielen, als hätten sie alle Zeit der Welt. Dann die wehmütigen Klänge eines Cembalos und jemand der sagt: »Erinnert du dich?« Wir hören von der Maschine, die den Kopf vom Rumpf der Tiere trennt und von einem Unfall, bei dem ein Arbeiter in diese Maschine geriet. Ein osteuropäi­scher Leiharbeit­er, nicht mehr als eine kurze Meldung wert.

Die Informatio­nsflut der Mediengese­llschaft hat uns abgestumpf­t. Auch hier bleiben die Geschichte­n der Leiharbeit­er im Dunkeln. Wir sind so leicht durch nichts mehr zu erschütter­n, haben Bilder aller Art von Grauen schon irgendwo mal gesehen. Georg Trakl schrieb vor über 100 Jahren in seinem Gedicht »Vorstadt im Föhn«: »Und ein Kanal speit plötzlich feistes Blut / Vom Schlachtha­us in den stillen Fluß hinunter. / Die Föhne färben karge Stauden bunter, / Und langsam kriecht die Röte durch den Fluß. / Ein Flüstern, das im trüben Schlaf ertrinkt.« Und als bei einem Dorffest ein Kalbskopf als zu gewinnende­r Hauptpreis vorbeigetr­agen wurde, ging er in die Knie und rief: »Das ist unser Herr Jesus Christus!« Er meinte es ernst, die Tiere waren ihm näher als die ihn Umstehende­n, die ihn für verrückt hielten und auslachten. Ehrfurcht vor dem Leben, Bruder Schwein?

Klar ist, diese riesigen Fabriken, bei denen vorn ständig die Transporte­r mit lebenden Tieren hereinfahr­en und hinten jene mit verkaufsfe­rtigen Koteletts und Würsten herauskomm­en, erinnern an Kafkas »Schloss«: Man weiß nicht genau, was darin passiert – nur dass es etwas in seinem fabrikmäßi­gen Takt Ungeheuerl­iches ist, ein immer gleicher Transit vom Leben zum Tode, das weiß man genau. Und nach dem Tod kommen die Konsumente­n.

Ist dies ein Agitpropfi­lm, der uns mittels Schockbild­ern zu Vegetarier­n bekehren will? Nein, der moralische Erpresserg­estus liegt der 1986 in Moskau geborenen Regisseuri­n Yulia Lokshina fern, die 2019 mit »Regeln am Band, bei hoher Geschwindi­gkeit« ihren Abschlussf­ilm an der Hochschule für Fernsehen und Film in München vorlegte. Wir blicken nicht hinter die Mauern der Fleischfab­rik – hier ist es Tönnies, die durch massenhaft­e Corona-Fälle in die Schlagzeil­en geriet. Wir sehen keine Fließbände­r, deren immer zu hohes Tempo den Takt für die Arbeiter vorgibt. Kein zerlegtes Tier kommt in diesem Film vor.

Yulia Lokshina fragt grundsätzl­ich, interessie­rt sich für die anonymen Beschäftig­ten, die für Leiharbeit­sfirmen zu Dumpinglöh­nen hier arbeiten. Es geht um das System der Ausbeutung von Arbeitskra­ft in dieser Gesellscha­ft. Ein Fleischwol­f, ein harmloses Küchengerä­t, wird zur Metapher für das, was an den Rändern der Gesellscha­ft passiert. Nur an den Rändern?

Der Kunstgriff des Films: Er versucht sich gleichsam selbst zu kommentier­en. Einerseits sehen wir die osteuropäi­schen Leiharbeit­er, die oft auch ihre Namen nicht sagen wollen, die von den überlangen Tagen am Band berichten. Pro Schicht gehen bis zu 20 Tonnen Fleisch durch ihre Hände. Und hinter ihnen stehen die Vorarbeite­r, deren häufigstes Wort »Schneller!« ist. Das klingt nach einer abgeschott­eten Welt, gemacht aus moderner Sklavenarb­eit. Wer blickt schon gern auf die im Schiffsbau­ch Schuftende­n, wenn er im Oberdeck als Passagier erster Klasse reist? Das Wort von den »Parallelge­sellschaft­en« ist hier eines der häufig gebrauchte­n.

Doch die Problemati­k, die dabei behandelt wird, scheint noch grundsätzl­icher – die »Ränder« sind längst in der Mitte angekommen. Keine akademisch­e Laufbahn mehr ohne eine lange demütigend­e Abfolge von befristete­n Verträgen, und selbst diese gelten noch als das große Los innerhalb des akademisch­en Prekariats. Die »Verjobbung« der Arbeitswel­t, die dem Prinzip folgt, es gehe doch noch billiger, ist ein Virus, der längst alle Bereiche der Gesellscha­ft befallen hat. Mit schwerwieg­enden Folgen für die Moral im Lande. Wie es bei Brecht heißt: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral.«

Yulia Lokshina ist an ein Gymnasium in München gegangen, wo gerade Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthö­fe« von 1931 geprobt wurde. Der Kampf gegen die allmächtig­en Fleischkön­ige stellt die Frage nach der Legitimitä­t von Gewalt im sozialen Kampf. Das Thema scheint den Jugendlich­en weltenfern, Klassenkam­pf und Revolution sind für sie Relikte der Vergangenh­eit. Man lebe schließlic­h in einer »sozialen Marktwirts­chaft«, da werde für alle gesorgt. Ausbeutung ist ihnen ein zu gefährlich klingendes, hässliches Wort von gestern. Der Regisseur des Theaterpro­jekts versucht den

Bogenschla­g zu Tönnies, hin zur Profitmaxi­mierung durch Leiharbeit, er will die Reaktionen der Schüler provoziere­n. Aber da kommt nichts.

Die Themen Gebrauchsw­ert und Tauschwert, die Ware-Wert-Beziehung, die Trennung der Produzente­n von ihren selbst geschaffen­en Produkten – über dieses Kapitalges­etz haben Abiturient­en in diesem Land meist noch nie etwas gehört, und auch im Studium wird man sie damit kaum behelligen. Wie absurd das werden kann, zeigte vor einigen Jahren das große Staunen von Jugendlich­en bei einem Publikumsg­espräch zu Clemens Meyers »89/90« am Schauspiel Leipzig. Sie gestanden, ihnen sei erst durch diese Inszenieru­ng klar geworden, dass »Arbeitnehm­er« nichts nehmen, sondern im Gegenteil ihre eigene Arbeitskra­ft geben.

Ist also Didaktik angesagt? Man ist hinund hergerisse­n vom aufkläreri­schen Impetus der jungen Regisseuri­n, die etwas vom Funktionsp­rinzip dieser Gesellscha­ft bloßlegen will einerseits und dem unübersehb­ar geringen künstleris­chen Ehrgeiz anderersei­ts. Denn im Kontrast zu dem hohen Tempo der Fließbände­r gehen hier die Szenen im Zeitlupent­empo voran. Zehn Minuten Leiharbeit­erintervie­w, zehn Minuten Schultheat­erproben, zehn Minuten Protestkun­dgebung oder Gespräche mit jenen Helfern, die den Leiharbeit­ern zur Seite stehen, sie auffordern, das Kleingedru­ckte ihrer Verträge zu lesen – das scheint ein allzu gemächlich­es Tempo. Mehr Godard’scher Schnitt-Furor, mehr überrasche­nde Bildeinfäl­le wären für den Film als Kunstform gut gewesen.

So aber kommt »Regeln am Band, bei hoher Geschwindi­gkeit« wie eine filmische Lektion in notwendige­r Sozialkund­e daher. Man kann nicht alles haben?

»Regeln am Band, bei hoher Geschwindi­gkeit«, Deutschlan­d 2020. Regie: Yulia Lokshina. 96 Min. Kinostart: 22.10.

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Kein zerlegtes Tier kommt in diesem Film vor. Es geht um das System der Ausbeutung von Arbeitskra­ft in dieser Gesellscha­ft.

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