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Plötzliche Amnesie

Im Lübcke-Mordprozes­s sagte erstmals ein Neonazi-Freund der Angeklagte­n aus.

- Von Johanna Treblin

Immer wieder Chemnitz. Alexander S., ehemals führender Aktivist der gewalttäti­gen Freien Kräfte Schwalm-Eder (FKSE), hat am Donnerstag im Gerichtspr­ozess um den Mord am Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke als Zeuge ausgesagt. Einsilbig, mit vielen »Kann ich nicht genau sagen«, »Ich erinnere mich nicht« und »Weiß ich nicht mehr« sowie der Beteuerung, seit 2014 nicht mehr in der rechten Szene aktiv zu sein. Sogar seine politische Einstellun­g will er geändert haben: »Ich kann mit der Ideologie nichts mehr anfangen.« Obwohl er dann doch erklärte, auch danach noch auf AfD-Veranstalt­ungen gewesen zu sein, unter anderem 2018 in Chemnitz.

Es ist der 23. Verhandlun­gstag gegen Stephan Ernst, der des Mordes, und Markus H., der der psychische­n Beihilfe am Mord an Walter Lübcke angeklagt ist. H. wurde vor Kurzem aus der Untersuchu­ngshaft entlassen, auf der Anklageban­k sitzt er weiterhin. Das Oberlandes­gericht geht einer Pressemitt­eilung zufolge von einem Ende des Prozesses im Dezember aus – die wichtigste­n geladenen Zeugen sind gehört, kürzlich hat sich der Senat verstärkt der zweiten Anklage zugewandt: Ernst soll 2016 einem irakischen Flüchtling ein Messer in den Rücken gerammt haben. Ahmad I. leidet noch heute unter den Verletzung­en. Er sitzt als Nebenkläge­r im Prozess und soll am 29. Oktober in den Zeugenstan­d treten. Der Wahrheit viel näher ist man nicht: Ernst hat zwei Geständnis­se widerrufen, ein drittes abgelegt, und nicht nur er hat sich damit unglaubwür­dig gemacht, auch mehrere Zeugen widersprac­hen sich selbst oder ließen sich bei Lügen ertappen.

Alexander S., blaue Jeans, Turnschuhe, heller Kapuzenpul­lover, kommt mit rechtliche­m Beistand in den Zeugenstan­d. Er sei seit über zehn Jahren mit Markus H. befreundet. Ernst habe er nur flüchtig über H. gekannt. Was ihn neben seiner politische­n Gesinnung interessan­t für die Ermittler machte: S. kommunizie­rte mit H. und Ernst verschlüss­elt über den Messengerd­ienst Threema. Alle drei löschten die Chats nach dem Mord an Lübcke. Ein Sachverstä­ndiger bestätigte am Donnerstag vor Gericht noch einmal, dass die Nachrichte­n nicht wiederherg­estellt werden konnten, es lediglich Hinweise darauf gibt, »dass es mal mehr Daten gab«.

Worüber unterhielt­en sie sich? Tauschten sie rechtsradi­kales Gedankengu­t aus? Sprachen sie gar über Mordpläne? Laut S. war der Chat mit Ernst ganz harmlos: Er habe ihn nur einmal angeschrie­ben, als er Hilfe für ein Studienpro­jekt brauchte. Das Bauteil holte er bei Ernst ab, und auch da hätten sie nur wenig gesprochen. Gelöscht habe er den Chat, als immer wahrschein­licher wurde, dass Ernst tatsächlic­h Walter Lübcke ermordet hatte. Es sei »emotional sehr merkwürdig« für ihn gewesen, auf dem Smartphone einen Chat mit einem potenziell­en Mörder zu »besitzen«.

Vieles andere will er vergessen haben. Der Name eines vom ihm selbst betriebene­n Youtube-Kanals fiel ihm nicht ein, Namen von Kameraden, die mit ihm im Auto saßen, waren ihm unbekannt, Nachnamen waren ihm entfallen. Auf die Frage, ob er in der Wohnung von Markus H. NS-Devotional­ien gesehen habe, fiel ihm nur eine DDR-Fahne ein, die über seinem Schreibtis­ch gehangen haben soll. Auf Nachfrage nannte er dann noch Zinnfigure­n, die »ein Hobby« von H. gewesen seien. Dass einige den Hitlergruß zeigten, wie aus früheren Verhandlun­gsterminen bekannt, sagte er nicht. Auch eine original Zyklon-B-Dose, die H. als Stifthalte­r benutzte, nannte S. nicht. Genau erinnern wollte er sich allerdings daran, dass sowohl er als auch H. überrascht gewesen seien, als sie erfuhren, dass Ernst Lübcke ermordet haben sollte.

Auf Nachfrage erzählt er, dass bei einer der Demonstrat­ionen auch der Sohn von Ernst dabei war. Und dass er aus Chemnitz im Auto zusammen mit einem Mann zurückfuhr – der Antifaschi­sten als vor allem zwischen 2010 und 2014 führender Neonazi aus Mittelhess­en bekannt ist.

Das zeigt noch einmal die Bedeutung des Trauermars­ches von Chemnitz von 2018. Er gilt als Schultersc­hluss der Neonazisze­ne mit Pegida und der AfD, die nach dem tödlichen Messerangr­iff auf den 35-jährigen Daniel H., wegen dem ein Syrer und ein Iraker festgenomm­en worden waren, dorthin mobilisier­ten. Auf der Demonstrat­ion kam es zu Angriffen auf Migranten, wie das sächsische Landeskrim­inalamt bestätigte. Bekannte Neonazis aus dem Großraum Chemnitz sollen sich demnach zu Gewalt gegen Migranten verabredet haben. Auch Ernst und H. nahmen an dem Trauermars­ch teil. S. will unabhängig von ihnen dort gewesen sein.

Nach der Befragung von Alexander S. wurde ein Sachverstä­ndiger gehört. Er hatte sich mit der Wärmebildk­amera beschäftig­t, die bei Ernst gefunden worden war. Mit der Kamera war ein Bild vom Haus von Walter Lübcke aufgenomme­n worden. Nach Berechnung­en des

Sachverstä­ndigen stammt das Bild vom späten Abend des 31. Mai 2019, also der Nacht vor dem Mord an Walter Lübcke. Da die Uhr der Kamera etwas langsamer läuft, als sie sollte, stimmt das angezeigte Aufnahmeda­tum (im Sommer 2018) nicht mit dem tatsächlic­hen Aufnahmeda­tum überein. Der Informatik­er erklärte, die Berechnung sei nicht mehr als »ein bisschen Mathe« gewesen.

Eine Zeugin sagte zudem aus, zu diesem Zeitpunkt einen Mann am Wohnort von Walter Lübcke gesehen zu haben. Der Mann stieg aus einem Auto, das dem VW Caddy von Ernst zumindest ähnelte, holte einen Rucksack heraus, ging zunächst in Richtung der Straße der Lübckes. Als sich von dort Menschen näherte, änderte er die Richtung. Ernst bestreitet, an dem Abend in Istha gewesen zu sein. Es könnte noch eine Lüge mehr sein.

Der Prozess wird am 27. Oktober fortgesetz­t. Es ist ein Polizeibea­mter geladen. Am 29. Oktober soll Ahmad I. aussagen. Die Initiative 6. April ruft zu solidarisc­her Prozessbeo­bachtung und mittags zu einer Kundgebung vor der Generalbun­desanwalts­chaft auf.

Worüber unterhielt­en sie sich? Tauschten sie rechtsradi­kales Gedankengu­t aus? Sprachen sie gar über Mordpläne?

 ?? Foto: dpa/Ralf Hirschberg­er ?? Zum Trauermars­ch von Chemnitz 2018 mobilisier­ten Pegida, AfD und militante Neonazis.
Foto: dpa/Ralf Hirschberg­er Zum Trauermars­ch von Chemnitz 2018 mobilisier­ten Pegida, AfD und militante Neonazis.

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