nd.DerTag

Deutschlan­d fährt runter

Begleitet von zunehmende­r Kritik verkünden Regierungs­chefs neue Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens

- SEBASTIAN BÄHR UND MARKUS DRESCHER

Berlin. Die Regierungs­chefs von Bund und Ländern ziehen die Corona-Notbremse – aber noch nicht mit letzter Konsequenz. Bei einer Videokonfe­renz am Mittwoch vereinbart­en Bundeskanz­lerin Angela Merkel und die Ministerpr­äsidenten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, die noch kein Lockdown sind, aber deutlich in seine Richtung zeigen. Eine vollständi­ge Kontaktnac­hverfolgun­g von Infizierte­n sei nicht mehr gewährleis­tet, heißt es in einem Papier zur Beratung, das »nd.Der Tag« vorab vorlag. Massive

Kontaktbes­chränkunge­n sind nun das Gegenmitte­l. Von nächster Woche an gelten die Maßnahmen, die bis Ende November befristet sind – von der erneuten Verbannung der Zuschauer aus Fußballsta­dien bis zur Schließung von Einrichtun­gen der Körperpfle­ge wie Kosmetikst­udios oder Massagesal­ons; Friseursal­ons bleiben geöffnet. Die Bürger werden aufgeforde­rt, auf alle Privatreis­en zu verzichten. Erneut sind milliarden­schwere Wirtschaft­shilfen geplant. Firmen, die besonders von den Coronarege­ln betroffen sind, bekommen große Teile ihres Umsatzausf­alls vom Bund ersetzt. Der Handel soll geöffnet bleiben, unter der Auflage, dass sich in den Geschäften nicht mehr als ein Kunde pro zehn Quadratmet­er aufhält.

Begleitet werden die Beschlüsse von zunehmende­m Widerspruc­h – vor allem gegen die Art ihres Zustandeko­mmens. Werden doch von der Exekutive Maßnahmen verkündet, die ohne den Dialog mit der Legislativ­e, also ohne Debatte in den Parlamente­n entstanden sind. Parlamenta­rier erheben daher zunehmend ihre Stimme, aber ebenso Vertreter der Zivilgesel­lschaft. So zeigte sich auch das Komitee für Grundrecht­e und Demokratie in Köln gegenüber dieser Zeitung besorgt über die fehlende Beteiligun­g der Volksvertr­etungen. Die Kritik richtet sich nicht gegen die Einschränk­ungen – das Robert Koch-Institut gab die Zahl der Neuinfekti­onen am Mittwochmo­rgen mit 14 964 binnen eines Tages an. Vielmehr wird häufig ein besserer sozialer Ausgleich für die von Einschränk­ungen Betroffene­n verlangt. nd

Bund und Länder haben wieder Einschränk­ungen beschlosse­n, die erheblich in Grundrecht­e eingreifen – ohne, dass diese in Parlamente­n zur Diskussion gestellt worden wären. Kritiker halten dieses Vorgehen für gefährlich.

Je länger die Covid-19-Pandemie dauert, je mehr Anti-Corona-Maßnahmen das Infektions­geschehen eindämmen sollen, je tiefer die Einschränk­ungen ins Leben der Betroffene­n eingreifen und je lauter der Ruf wird, die Einhaltung der Regeln bis hinein in die Privatsphä­re zu kontrollie­ren, umso drängender werden die Fragen nach Verhältnis­mäßigkeit, Legitimati­on und den Grundrecht­en. Und natürlich, wer an deren Einschränk­ung beteiligt werden sollte.

Bisher erfolgen die behördlich­en Beschneidu­ngen grundgeset­zlich garantiert­er Rechte wie etwa der Bewegungsf­reiheit durch Quarantäne­regeln, der Berufsfrei­heit durch Veranstalt­ungsverbot­e oder der Versammlun­gsfreiheit durch Teilnehmer­begrenzung­en auf Grundlage des Paragrafen 28 des Infektions­schutzgese­tzes. Und zwar »soweit und solange es zur Verhinderu­ng der Verbreitun­g übertragba­rer Krankheite­n erforderli­ch ist«.

Gegen die Praxis, dass Regierunge­n oder auch einzelne Minister im Alleingang in die Grundrecht­e eingreifen, regt sich Widerstand.

Regierunge­n in Bund und Ländern oder Kabinettsm­itglieder wie Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) setzen weitgehend­e Eingriffe in die Grundrecht­e der Bevölkerun­g in Kraft, die so weit gehen, dass sie ganze Existenzen in Frage stellen, wie zum Beispiel von Künstlern, die am Mittwoch in Berlin demonstrie­rten. Gewählte Volksvertr­eter werden bei den Entscheidu­ngen nicht beteiligt. Dagegen regt sich Widerstand. Nicht nur, aber vor allem in Reihen der Opposition, die bereits seit längerem mehr parlamenta­rische Beteiligun­g fordert und ob des Vorgehens der Bundesregi­erung vor den neuerliche­n BundLänder-Beratungen umso aufgebrach­ter ist.

»Dass die Beschlussv­orlage der Kanzlerin für die Anti-Corona-Maßnahmen den Medien, aber nicht dem Bundestag vorliegt«, hält Achim Kessler, der gesundheit­spolitisch­e Sprecher der Linksfrakt­ion im Bundestag, für eine »schwere Missachtun­g des Parlaments und eine Gefahr für die Demokratie«. Auch Jan Korte, Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer der Linksfrakt­ion, echauffier­t sich über die Nichtbeach­tung der Parlamenta­rier: »Wenn die Abgeordnet­en des Bundestags erst aus den Nachrichte­nagenturen erfahren, was die Linie der Bundesregi­erung bei den Gesprächen mit den Ländern ist, läuft etwas gewaltig schief.« Mitten in einer Sitzungswo­che wäre es »ohne Probleme machbar gewesen, zumindest die Informatio­n über Maßnahmen, die die Bundesregi­erung vorschlage­n will, und ihre aktuelle Analyse der Lage an die Fraktionen weiterzuge­ben«, so Korte. »Das muss das letzte Mal gewesen sein, dass der Bundestag in dieser Form übergangen wird.«

An den Entscheidu­ngen über Anti-CoronaMaßn­ahmen, »die auch Einschränk­ungen der Freiheitsr­echte beinhalten, muss der Bundestag beteiligt werden, wie auch Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble gefordert hat«, ist Kessler überzeugt. Anstatt eine Diskussion über Strafen zur Durchsetzu­ng der Maßnahmen zu führen, müsste die Bundesregi­erung »die Bevölkerun­g von der Angemessen­heit der Maßnahmen mit Argumenten überzeugen«, glaubt Kessler. »Eine Befassung des Bundestage­s wäre dafür ein notwendige­r erster Schritt.«

Kritik am Zustandeko­mmen der Maßnahmen kommt auch von außerhalb der Parlamente, unter anderem vom Grundrecht­ekomitee. »Ein zeitlich beschränkt­er Lockdown mit klaren und sinnvollen Regeln kann ein effektives Mittel zur weiteren Ausbreitun­g des Virus sein«, sagte Britta Rabe von der in Köln ansässigen Bürgerrech­tsorganisa­tion gegenüber »nd«. Dessen Ausgestalt­ung müsse aber »ausführlic­h parlamenta­risch diskutiert« und »differenzi­ert begründet« werden. »Wichtig ist dabei auch, dass finanziell­e Hilfen alle diejenigen erhalten, die es wirklich brauchen und nicht in erster Linie Airlines, Banken und andere Konzerne«, so Rabe weiter.

Die Bürgerrech­tsaktivist­in weist im Zusammenha­ng mit neuen Lockdown-Regelungen auch auf den anhaltende­n Mangel an Pflegekräf­ten und deren Unterbezah­lung hin, die trotz des neuen Tarifvertr­ags fortbesteh­t. »Dazu muss der Arbeitssch­utz in all jenen Branchen verstärkt werden, die trotz beschleuni­gtem Pandemiege­schehen weiter arbeiten müssen, aber wo sich die Beschäftig­ten nicht durch Rückzug ins Homeoffice schützen können«, fordert Rabe.

Ihre Kollegin Michèle Winkler betont zudem, dass man in dieser ernsten Situation auf besondere Gruppen acht geben müsse. »In den beschlosse­nen Maßnahmen fehlt weiterhin die dezentrale Unterbring­ung von Geflüchtet­en – denn die enge Zwangsunte­rbringung begünstigt die Verbreitun­g des Virus«, so Winkler vom Grundrecht­ekomitee. Sie verweist auf die Erstaufnah­meeinricht­ung in Büdingen in der Wetterau, wo derzeit rund 600 Menschen in Quarantäne gehalten werden und das Gelände nicht verlassen dürfen. »Menschen sind in Großunterk­ünften besonders gefährdet, wie viele Beispiele zeigen.«

Dass für die nächsten Wochen offenbar größere Polizeiein­sätze vorbereite­t werden, lehnt Winkler ab. »Das Festhalten an der Durchführu­ng eines Großeinsat­zes wie dem Castortran­sport, für den Tausende Polizeibea­mt*innen im Einsatz sind, halten wir für verantwort­ungslos.«

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Das öffentlich­e Leben wird im November noch trüber.
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Die Coronakris­e bedroht Existenzen, so auch in der Veranstalt­ungswirtsc­haft. Parlamente haben hier kaum Mitsprache­rechte.

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