Deutschland fährt runter
Begleitet von zunehmender Kritik verkünden Regierungschefs neue Einschränkungen des öffentlichen Lebens
Berlin. Die Regierungschefs von Bund und Ländern ziehen die Corona-Notbremse – aber noch nicht mit letzter Konsequenz. Bei einer Videokonferenz am Mittwoch vereinbarten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, die noch kein Lockdown sind, aber deutlich in seine Richtung zeigen. Eine vollständige Kontaktnachverfolgung von Infizierten sei nicht mehr gewährleistet, heißt es in einem Papier zur Beratung, das »nd.Der Tag« vorab vorlag. Massive
Kontaktbeschränkungen sind nun das Gegenmittel. Von nächster Woche an gelten die Maßnahmen, die bis Ende November befristet sind – von der erneuten Verbannung der Zuschauer aus Fußballstadien bis zur Schließung von Einrichtungen der Körperpflege wie Kosmetikstudios oder Massagesalons; Friseursalons bleiben geöffnet. Die Bürger werden aufgefordert, auf alle Privatreisen zu verzichten. Erneut sind milliardenschwere Wirtschaftshilfen geplant. Firmen, die besonders von den Coronaregeln betroffen sind, bekommen große Teile ihres Umsatzausfalls vom Bund ersetzt. Der Handel soll geöffnet bleiben, unter der Auflage, dass sich in den Geschäften nicht mehr als ein Kunde pro zehn Quadratmeter aufhält.
Begleitet werden die Beschlüsse von zunehmendem Widerspruch – vor allem gegen die Art ihres Zustandekommens. Werden doch von der Exekutive Maßnahmen verkündet, die ohne den Dialog mit der Legislative, also ohne Debatte in den Parlamenten entstanden sind. Parlamentarier erheben daher zunehmend ihre Stimme, aber ebenso Vertreter der Zivilgesellschaft. So zeigte sich auch das Komitee für Grundrechte und Demokratie in Köln gegenüber dieser Zeitung besorgt über die fehlende Beteiligung der Volksvertretungen. Die Kritik richtet sich nicht gegen die Einschränkungen – das Robert Koch-Institut gab die Zahl der Neuinfektionen am Mittwochmorgen mit 14 964 binnen eines Tages an. Vielmehr wird häufig ein besserer sozialer Ausgleich für die von Einschränkungen Betroffenen verlangt. nd
Bund und Länder haben wieder Einschränkungen beschlossen, die erheblich in Grundrechte eingreifen – ohne, dass diese in Parlamenten zur Diskussion gestellt worden wären. Kritiker halten dieses Vorgehen für gefährlich.
Je länger die Covid-19-Pandemie dauert, je mehr Anti-Corona-Maßnahmen das Infektionsgeschehen eindämmen sollen, je tiefer die Einschränkungen ins Leben der Betroffenen eingreifen und je lauter der Ruf wird, die Einhaltung der Regeln bis hinein in die Privatsphäre zu kontrollieren, umso drängender werden die Fragen nach Verhältnismäßigkeit, Legitimation und den Grundrechten. Und natürlich, wer an deren Einschränkung beteiligt werden sollte.
Bisher erfolgen die behördlichen Beschneidungen grundgesetzlich garantierter Rechte wie etwa der Bewegungsfreiheit durch Quarantäneregeln, der Berufsfreiheit durch Veranstaltungsverbote oder der Versammlungsfreiheit durch Teilnehmerbegrenzungen auf Grundlage des Paragrafen 28 des Infektionsschutzgesetzes. Und zwar »soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist«.
Gegen die Praxis, dass Regierungen oder auch einzelne Minister im Alleingang in die Grundrechte eingreifen, regt sich Widerstand.
Regierungen in Bund und Ländern oder Kabinettsmitglieder wie Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) setzen weitgehende Eingriffe in die Grundrechte der Bevölkerung in Kraft, die so weit gehen, dass sie ganze Existenzen in Frage stellen, wie zum Beispiel von Künstlern, die am Mittwoch in Berlin demonstrierten. Gewählte Volksvertreter werden bei den Entscheidungen nicht beteiligt. Dagegen regt sich Widerstand. Nicht nur, aber vor allem in Reihen der Opposition, die bereits seit längerem mehr parlamentarische Beteiligung fordert und ob des Vorgehens der Bundesregierung vor den neuerlichen BundLänder-Beratungen umso aufgebrachter ist.
»Dass die Beschlussvorlage der Kanzlerin für die Anti-Corona-Maßnahmen den Medien, aber nicht dem Bundestag vorliegt«, hält Achim Kessler, der gesundheitspolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, für eine »schwere Missachtung des Parlaments und eine Gefahr für die Demokratie«. Auch Jan Korte, Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion, echauffiert sich über die Nichtbeachtung der Parlamentarier: »Wenn die Abgeordneten des Bundestags erst aus den Nachrichtenagenturen erfahren, was die Linie der Bundesregierung bei den Gesprächen mit den Ländern ist, läuft etwas gewaltig schief.« Mitten in einer Sitzungswoche wäre es »ohne Probleme machbar gewesen, zumindest die Information über Maßnahmen, die die Bundesregierung vorschlagen will, und ihre aktuelle Analyse der Lage an die Fraktionen weiterzugeben«, so Korte. »Das muss das letzte Mal gewesen sein, dass der Bundestag in dieser Form übergangen wird.«
An den Entscheidungen über Anti-CoronaMaßnahmen, »die auch Einschränkungen der Freiheitsrechte beinhalten, muss der Bundestag beteiligt werden, wie auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gefordert hat«, ist Kessler überzeugt. Anstatt eine Diskussion über Strafen zur Durchsetzung der Maßnahmen zu führen, müsste die Bundesregierung »die Bevölkerung von der Angemessenheit der Maßnahmen mit Argumenten überzeugen«, glaubt Kessler. »Eine Befassung des Bundestages wäre dafür ein notwendiger erster Schritt.«
Kritik am Zustandekommen der Maßnahmen kommt auch von außerhalb der Parlamente, unter anderem vom Grundrechtekomitee. »Ein zeitlich beschränkter Lockdown mit klaren und sinnvollen Regeln kann ein effektives Mittel zur weiteren Ausbreitung des Virus sein«, sagte Britta Rabe von der in Köln ansässigen Bürgerrechtsorganisation gegenüber »nd«. Dessen Ausgestaltung müsse aber »ausführlich parlamentarisch diskutiert« und »differenziert begründet« werden. »Wichtig ist dabei auch, dass finanzielle Hilfen alle diejenigen erhalten, die es wirklich brauchen und nicht in erster Linie Airlines, Banken und andere Konzerne«, so Rabe weiter.
Die Bürgerrechtsaktivistin weist im Zusammenhang mit neuen Lockdown-Regelungen auch auf den anhaltenden Mangel an Pflegekräften und deren Unterbezahlung hin, die trotz des neuen Tarifvertrags fortbesteht. »Dazu muss der Arbeitsschutz in all jenen Branchen verstärkt werden, die trotz beschleunigtem Pandemiegeschehen weiter arbeiten müssen, aber wo sich die Beschäftigten nicht durch Rückzug ins Homeoffice schützen können«, fordert Rabe.
Ihre Kollegin Michèle Winkler betont zudem, dass man in dieser ernsten Situation auf besondere Gruppen acht geben müsse. »In den beschlossenen Maßnahmen fehlt weiterhin die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten – denn die enge Zwangsunterbringung begünstigt die Verbreitung des Virus«, so Winkler vom Grundrechtekomitee. Sie verweist auf die Erstaufnahmeeinrichtung in Büdingen in der Wetterau, wo derzeit rund 600 Menschen in Quarantäne gehalten werden und das Gelände nicht verlassen dürfen. »Menschen sind in Großunterkünften besonders gefährdet, wie viele Beispiele zeigen.«
Dass für die nächsten Wochen offenbar größere Polizeieinsätze vorbereitet werden, lehnt Winkler ab. »Das Festhalten an der Durchführung eines Großeinsatzes wie dem Castortransport, für den Tausende Polizeibeamt*innen im Einsatz sind, halten wir für verantwortungslos.«