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Opfer erster Klasse und die anderen

Die Debatte über ein »Polendenkm­al« in Berlin zeigt, wie heutzutage Leidtragen­de der NS-Zeit instrument­alisiert werden

- RENÉ HEILIG

Der Bundestag debattiert am Freitag über ein neues Denkmal in Berlin. Es soll an die polnischen Opfer während der Nazi-Okkupation erinnern. Es wird auch als Beginn einer »Opferkonku­rrenz« verstanden.

Er habe seine Totenkopfv­erbände bereitgest­ellt »mit dem Befehl, unbarmherz­ig und mitleidslo­s Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken«, betonte Adolf Hitler eine Woche vor dem Angriff auf Polen. Nur so, betonte der Führer aller deutschen Völkermörd­er, »gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen«. Laut Nazi-Ideologie waren Polen ohnehin »minderwert­ig«, nur tauglich zum Unterwerfe­n. Mehr als fünf Millionen polnische Staatsbürg­er kamen zwischen 1939 und 1945 unter deutscher Besatzung um. Sie starben durch Terror, im Widerstand oder wurden – wie vor allem jüdische Bürger – Opfer planmäßige­r Massenmord­aktionen.

Spät genug hat sich der Bundestag jüngst für ein Zentrum zur Aufarbeitu­ng der deutschen Besatzunge­n während des Zweiten Weltkrieg ausgesproc­hen. Die Dokumentat­ions-, Bildungs- und Erinnerung­sstätte soll Informatio­nen bieten, historisch­e Zusammenhä­nge vermitteln und über geschehene­s Leid in Europa sowie in Deutschlan­d aufklären. Einzig die AfD-Fraktion verweigert­e sich und sprach von »Erinnerung­swahn«.

Am Freitag soll auf Antrag der Regierungs­fraktionen darüber hinaus beraten werden, wie Deutschlan­d »mit einem eigenen Ort des Erinnerns und der Begegnung dem besonderen Charakter der deutsch-polnischen Geschichte mit dem Tiefpunkt der deutschen Besatzung in Polen gerecht werden und zur Vertiefung der deutsch-polnischen Beziehunge­n beitragen« kann.

Es sei gut, dass nach Jahrzehnte­n des Verschweig­ens die deutschen Verbrechen im Rahmen des NS-Vernichtun­gskrieges im Osten auf die Tagesordnu­ng des Parlaments kommen, erklärte Jan Korte, Erster Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer der Linksfrakt­ion, gegenüber »nd«. Wie das jedoch geschieht, sei beschämend. »Wer sich dafür nur eine halbe Stunde Debattenze­it nimmt, der zeigt, wie sehr er dem Charakter der deutschpol­nischen Geschichte tatsächlic­h gerecht werden und zur Vertiefung der besonderen bilaterale­n Beziehunge­n beitragen will.«

Korte hält den Antrag der Koalition »in mehrfacher Hinsicht für problemati­sch«. Union und SPD sprechen von einer »unvergleic­hlichen Versöhnung­sgeschicht­e«, die sich wenige Jahre nach Kriegsende entwickelt hätte. Kein Wort gebe es zum Geschichts­revisionis­mus und Revanchism­us der Bundesrepu­blik, keines zu Vertrieben­entagen unter dem Motto »Schlesien bleibt unser!«, an deren Teilnahme der damalige Kanzler Helmut Kohl nur mit Mühe gehindert werden konnte. Kein Wort auch zur jahrzehnte­langen Weigerung der BRD, die Oder-Neiße-Linie anzuerkenn­en, die für die DDR selbstvers­tändlich war.

Man wolle, so hört man auf Regierungs­seite, Polen als erstes und besonderes Opfer der Nazis würdigen. Doch sei es Warschau nicht zuzumuten, gleichbere­chtigt in einer Reihe unter anderem mit Wladimir Putins Russland zu stehen. Auch wenn man schwerwieg­ende aktuelle Divergenze­n zwischen einst okkupierte­n Nationen einbezieht – kann es angehen, Opfern deutscher Gewaltpoli­tik unterschie­dliche Bedeutung zuzuweisen?

Der Begriff »Opferkonku­rrenz« macht die Runde. So erkennt Andrij Melnyk, ukrainisch­er Botschafte­r in Berlin, in dem PolenDenkm­al »einen gefährlich­en Präzedenzf­all der Hierarchis­ierung der NS-Opfer« und fordert seinerseit­s ein Denkmal für die fünf Millionen zivilen Opfer, darunter 1,5 Millionen Juden, die von den Nazis in der Ukraine umgebracht wurden. Es sei »enttäusche­nd«, dass der Bitte nicht entsproche­n wird.

Der Diplomat argwöhnt, Polen wolle offensicht­lich eine Monopolste­llung als »Hauptopfer« des Zweiten Weltkriege­s anstreben. Der Gedanke ist nachvollzi­ehbar, liest man einen Brief, den Melnyk vom polnischen Kollegen Andrzej Przylebski erhielt. Undifferen­ziert und extrem nationalis­tisch wirft der den Ukrainern prodeutsch­e Mittätersc­haft vor, korrigiert Opferzahle­n und betont, dass die Nachbarn doch wesentlich mehr unter den Sowjets gelitten hätten.

Auch so spiegeln sich – historisch unterlegt – aktuelle Widersprüc­he nicht nur im Verhältnis dieser beiden osteuropäi­schen Staaten wider. Die Warschauer Tageszeitu­ng »Gazeta Wyborcza« nennt Przylebski einen »dilettanti­schen und schädliche­n Botschafte­r«. Dem mag man zustimmen, doch damit erledigt sich die ehrliche Auseinande­rsetzung zum Thema in Deutschlan­d noch lange nicht.

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