nd.DerTag

Mythos Antifa

In der Debatte über die »Liebig34« brilliert der Verfassung­sschutz mit Ahnungslos­igkeit

- MARIE FRANK

Wer ist eigentlich diese »linksextre­mistische Szene«, die »ganze Stadtteile in Bürgerkrie­gszonen« verwandelt?, wollten AfD und CDU vom Verfassung­sschutz wissen. Die Antwort erstaunt.

»Albern bis kläglich«, nennt der innenpolit­ische Sprecher der Grünen, Benedikt Lux, die Ausführung­en von CDU und AfD zur Räumung des feministis­chen Hausprojek­ts »Liebig34« vor fast drei Wochen, seine Fraktionsk­ollegin June Thomiak spricht gar von einem »Kasperleth­eater«. Tatsächlic­h hat die Sitzung des Verfassung­sschutzaus­schusses des Abgeordnet­enhauses am Mittwoch etwas von einer Schaubühne: Die rechten Opposition­sfraktione­n inszeniere­n sich als Lawand-Order-Parteien und stellen Linke und Grüne als von »gewaltbere­iten Linksextre­misten« unterwande­rte Parteien dar, beziehungs­weise »bewerfen sie mit Dreck«, wie es der innenpolit­ische Sprecher der Linksfrakt­ion, Niklas Schrader, formuliert.

Um die Sache ging es jedenfalls kaum, dazu sind die Erkenntnis­se des Verfassung­sschutzes über die Besetzer*innen der »Liebig34« wohl auch zu dünn: Wer genau und wie viele Personen zuletzt in dem Hausprojek­t gewohnt hatten, könne man nicht sagen, so Abteilungs­leiter Michael Fischer. Lediglich die Anzahl der Personen, 57, die am

Tag der Räumung aus dem Haus vertrieben wurden, wisse man mit Bestimmthe­it. Es sei jedoch davon auszugehen, dass dies nicht alles Bewohner*innen gewesen seien. Auch, ob der Brand vor der »Liebig34« vor einer Woche (»nd« berichtete) der linksradik­alen Szene zuzuordnen ist, sei noch unklar, »es erscheint jedoch wahrschein­lich«, so Fischer.

Angesichts dieser durch Mutmaßunge­n nur mühsam verdeckten Ahnungslos­igkeit des Inlandsgeh­eimdienste­s merkt der CDUAbgeord­nete Kurt Wansner an: »›Kontraste‹ scheint mehr zu wissen als der Verfassung­sschutz.« Das ARD-Magazin war in den vergangene­n Wochen wiederholt mit regelrecht­em Kampagnen-Journalism­us gegen die linksradik­ale Szene im Friedrichs­hainer Nordkiez aufgefalle­n. So liefen denn auch die Fragen des AfD-Abgeordnet­en Ronald Gläser nach Namen und Organisati­onen, die hinter dieser Szene stecken, ins Leere: »Im anarcho-autonomen Spektrum ist es mit der Benennung von Gruppen schwierig«, findet Berlins Verfassung­sschutzche­f. »Die haben es nicht so mit einer Organisier­theit.« Diese bemerkensw­erte Erkenntnis führt Fischer auf die dahinterst­ehende Ideologie zurück: »Den Leuten geht es darum, herrschaft­sfrei zu arbeiten und zu agieren.«

Kein »Antifa e.V.« also, sondern ein breites Spektrum an Personen, so das bahnbreche­nde Fazit. Es sei jedoch zu beobachten, dass sich ein Teil der Szene »zunehmend radikalisi­ert«, so Innenstaat­ssekretär Torsten Akmann (SPD). Zwar habe sich die Zahl der gewaltbere­iten Linksauton­omen seit 2001 halbiert, gleichzeit­ig hätten linksmotiv­ierte Straftaten zugenommen. »Linksextre­mistische Angriffe richten sich nicht nur gegen Institutio­nen, sondern zunehmend auch gegen Personen«, so Akman. Ein »kleiner, aber gefestigte­r Kern« der linksradik­alen Szene verübe mehr Gewalttate­n und strebe dabei gezielt einen hohen Sachschade­n an.

Dass der bislang geringer ausgefalle­n ist, als von der linksradik­alen Szene vor der Räumung angekündig­t, ist für Verfassung­sschutzche­f Fischer kein Grund zur Entwarnung. »Es muss davon ausgegange­n werden, dass weitere Resonanzak­tionen folgen«, sagt er mit Blick auf die am kommenden Wochenende in Berlin stattfinde­nden autonomen Aktionsund Diskussion­stage. So ruft das Bündnis »Interkiezi­onale« für Samstagabe­nd unter dem Motto »United we fight« zu einer Demonstrat­ion auf, die auch an der ehemaligen »Liebig34« sowie an dem benachbart­en linksradik­alen Hausprojek­t »Rigaer94« vorbeigehe­n soll. Hier sei mit »aggressive­n und polizeifei­ndlichen Aktionen« zu rechnen, so Fischer. Seiner Einschätzu­ng nach sei ein Teil der Szene »in einer Art Schockzust­and«, dass dieses Szenesymbo­l tatsächlic­h geräumt wurde. »Wo das hinführt, werden wir sehen.«

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