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Der unbekannte Alltag der Sieger

Elke Scherstjan­oi hat Veteranen der Roten Armee zu ihren Erinnerung­en an Deutschlan­d befragt

- ANDRÉE FISCHER-MARUM

Die sowjetisch­en Soldaten hatten die furchtbare­n Zerstörung­en des eigenen Landes gesehen. Im Vergleich dazu wirkten die deutschen Dörfer und Städte, durch die sie kamen, unversehrt.

Ü ber die sowjetisch­e Besatzungs­zeit in einem Teil Deutschlan­ds nach der Befreiung vom Faschismus gibt es zahlreiche, gegensätzl­iche wissenscha­ftliche Abhandlung­en wie auch Zeitzeugen­berichte. Die Erinnerung­en von Ostdeutsch­en reichen von Freude und Erleichter­ung, vom NS-Terrorregi­me endlich befreit worden zu sein, über die Schilderun­g der Bemühungen und Schwierigk­eiten, die Versorgung wieder herzustell­en und Kriegszers­törungen zu beseitigen bis hin zu negativen Erfahrunge­n mit Besatzungs­soldaten, Requirieru­ngen, Diebstahl und Vergewalti­gungen, sowie der Verwunderu­ng über den großen Gegensatz von technische­m Fortschrit­t auf Seiten der östlichen Siegermach­t, etwa bei der Bewaffnung, und zeitgleich – für die Deutschen – unvorstell­barer Armut, für die symbolisch der Panjewagen steht, mit dem die sowjetisch­en Truppen in die Städte und Dörfer einzogen.

Dagegen begegnet man höchst selten der Sicht der Besatzer, wenn, dann in wenigen autobiogra­fischen Darstellun­gen, zum Beispiel von sowjetisch­en Kulturoffi­zieren. Das mag daran liegen, dass solche Erinnerung­en kaum ins Deutsche übersetzt wurden, weder in der DDR noch in den 30 Jahren des zusammenge­schlossene­n Deutschlan­d. Das Buch »Sieger leben in Deutschlan­d« schließt die Wissenslüc­ke über jene Zeit vor 75 Jahren. Sehr erstaunlic­h, bedenkt man, dass zwischen 1,5 Millionen (1945) und 600 000 (ab 1949) sowjetisch­e Armeeangeh­örige in der sowjetisch­en Besatzungs­zone beziehungs­weise der DDR lebten und Dienst taten. Über deren Alltag ist so gut wie nichts bekannt.

Die Berliner Historiker­in Elke Scherstjan­oi hat zum Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus ein ungewöhnli­ches »Lesebuch mit Bildern« herausgebr­acht. Die profunde Kennerin deutsch-sowjetisch­er Geschichte berichtet über die ersten drei Nachkriegs­jahre aus der Sicht sowjetisch­er Soldaten. Die Soldaten und Offiziere der Roten Armee hatten das Wüten deutscher Truppen in ihrer Heimat erlebt, sind durch verbrannte Dörfer und Städte gezogen, sahen die von den Okkupanten gemordeten Landsleute, erfuhren von der grausamen Behandlung ihrer kriegsgefa­ngenen Kameraden, als sie die Konzentrat­ionslager befreiten. Sie sahen das Leid, das auch den Häftlingen aus anderen von Nazideutsc­hland überfallen­en Ländern, insbesonde­re Juden, angetan worden ist. Nun standen sie als Sieger in dem Land, von dem verheerend­e Verbrechen ausgegange­n waren. Wie sollten sie der deutschen Bevölkerun­g begegnen, welche Erlebnisse hatten sie im Kontakt mit jener und welche Eindrücke nahmen sie mit, als sie in die Heimat zurückkehr­ten? Inwiefern haben der Krieg und die Jahre in Deutschlan­d ihren weiteren Lebensweg bestimmt?

152 zeitgenöss­ische Fotografie­n umrahmen die zwölf Gespräche, die Elke Scherstjan­oi mit ehemaligen Soldaten und Offizieren ab Anfang der 2000er Jahre führte: acht Männer und drei Frauen, zur Zeit der Interviews zwischen 68 und 95 Jahre alt, zwei von ihnen erinnerten sich als Kinder von Besatzungs­angehörige­n. Sie erzählten aus ihrem Alltagsleb­en, was eher untypisch für die Memoirenli­teratur sowjetisch­er Militärang­ehörigen war und ist. Umso dankbarer kann man Elke Scherstjan­oi sein, diese letzten Zeitzeugin­nen und Zeitzeugen angeregt zu haben, ihre Erinnerung­en an diese Zeit weiterzuge­ben. Zudem ist dieser Band auch typographi­sch hervorrage­nd gestaltet. Die Fotos bekunden den Stolz der Rotarmiste­n und Rotarmisti­nnen, zu denen zu gehören, die den Faschismus besiegt hatten. Sie gruppierte­n sich mit Kameraden und Kameradinn­en vor deutschen Denkmälern, postierten sich mit ihren Waffen auf einen geknackten Bunker oder stolz neben einem Motorrad oder gar Auto, das man fuhr. Es gibt auch einige Aufnahmen mit deutschen Zivilisten, beispielsw­eise Mitglieder einer von der Besatzungs­macht eingesetzt­en neuen Stadtverwa­ltung. Auf mehreren Fotos ist ein Akkordeon zu sehen, ein Musikinstr­ument, das die Rotarmiste­n auf ihrem langen, opferreich­en Marsch bis Berlin begleitet hatte. Die Bilder stammen nicht von den Gesprächsp­artnern, illustrier­en deren Erinnerung­en jedoch treffend.

»Die Soldaten hatten die furchtbare­n Zerstörung­en des eigenen Landes gesehen«, schreibt Elke Scherstjan­oi. Im Vergleich dazu wirkten die deutschen Dörfer und Städte, durch die sie kamen, unversehrt. »Da kam so ein bitteres, drückendes Gefühl auf, dass die Welt ungerecht ist: Warum soll es uns nun so schlecht gehen und denen, die uns überfallen haben, geht es weiterhin so gut?« Die Herausgebe­rin räumt ein: »Natürlich hat der

Soldat eingepackt. Das verurteile ich nicht. Doch wo er mit Gewalt vorging, wo er Einrichtun­gen zerschlug, alles beschmutzt­e, das muss man verurteile­n.«

In ihrer Einleitung informiert die Herausgebe­rin sachlich über die Hintergrün­de. Sie schildert sodann, wie aus Besetzern Freunde werden sollten und auch zum Teil geworden sind. Elke Scherstjan­oi merkt an: »Weder die Geschichte­n noch die Bilder und auch nicht beides zusammen decken das weite Spektrum an realen Erlebnisse­n und Erfahrunge­n ab.« Und sie fügt hinzu: »Wir wissen, dass die Nachkriegs­zeit in Deutschlan­d zuhauf auch andere Begebenhei­ten und Akteure gesehen hat, vor allem auch traurige Episoden, härtere Schicksale, schlimmere Herausford­erungen, Verbrechen und Unglücksfä­lle – unter Deutschen, unter ›Russen‹ und bei ihrem Zusammentr­effen.«

Elke Scherstjan­oi: Sieger leben in Deutschlan­d. Fragmente einer ungeübten Rückschau. Zum Alltag sowjetisch­er Besatzer in Ostdeutsch­land 1945– 1949. Edition Schwarzdru­ck, 236 S., geb., 27 €.

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Befreier treffen auf Befreite: Straßensze­ne in dem von der Roten Armee eroberten Berlin 1945

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