nd.DerTag

Man nennt es Demokratie

- Von Philip Malzahn

Fast zehn Jahre nach Beginn des Arabischen Frühlings gilt Tunesien als Lichtblick des Nahen Ostens. Doch die Lage im Land ist katastroph­al, auch ohne den gestürzten Diktator Ben Ali.

Es war eine Ohrfeige, deren Folgen in der gesamten arabischsp­rachigen Welt zu spüren waren. Am 17. Dezember hatte eine Polizeibea­mtin versucht, aufgrund seiner fehlenden Verkaufsge­nehmigung den Obststand des damals 26-jährigen Mohamed Bouazizi zu konfiszier­en. Dieser wehrte sich, denn der Obststand sicherte das Einkommen für seine Familie. Die Beamtin ohrfeigte ihn. Daraufhin ging er vor die Stadtverwa­ltung im tunesische­n Küstenort Sidi Bouzid, übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Seine Schwester beschrieb seine Motivation in einem Interview kurz danach dem Fernsehsen­der Al Jazeera folgenderm­aßen: »Er hatte lange versucht, eine Genehmigun­g für seinen Obststand zu bekommen. Nach diesem Ereignis jedoch war Mohamed unter Schock, seine Augen waren tränenerfü­llt. Sie hatte ihn geohrfeigt. Eine Frau – vor allen Leuten.«

Die Bilder des brutalen Selbstmord­s und die Reaktion des tunesische­n Volks gingen um die Welt. Armut, Hoffnungsl­osigkeit und das Gefühl, der eigenen Regierung vollkommen ausgeliefe­rt zu sein, trieben damals in der ganzen arabischsp­rachigen Welt die Menschen auf die Straße. Und das mit Erfolg, zumindest in Tunesien. Am 14. Januar, knapp vier Wochen nach dem Vorfall im kleinen Küstenort Sidi Bouzid, ergriff der Präsident Zine El Abidine Ben Ali nach 23 Herrschaft­sjahren die Flucht. Die Menschen in Tunesien jubelten, und auch die Welt gratuliert­e dem Volk zur neu gewonnen Freiheit. Die erste freie Demokratie der arabischsp­rachigen Welt war geboren. Heute, fast zehn Jahre später, gibt es weiterhin freie Wahlen, zuletzt wurde am 13. Oktober 2019 der Jurist Kais Said zum Präsidente­n gewählt. Durch den Demokratis­ierungspro­zess erhofft sich die Regierung, die Attraktivi­tät Tunesiens als Wirtschaft­sstandort zu steigern. Das funktionie­rt teilweise: Für circa 80 Milliarden US-Dollar baut man derzeit vor der Hauptstadt Tunis die »Tunisia Economic City«, ein eigenes Wirtschaft­sstadtvier­tel inklusive Freihandel­szone, in dem sich Firmen aus aller Welt niederlass­en sollen. Daran beteiligt sind Investoren aus der EU, Indien und China. Doch von solchen prestigetr­ächtigen Projekten kommt so gut wie nichts bei den Menschen an. Die Arbeitslos­igkeit lag im Jahr 2020 bei etwa 16 Prozent. Zum Vergleich: Vor dem Ausbruch der Revolution 2010 waren es 18 Prozent.

Korruption ist allgegenwä­rtig. Ein Großteil des Staatsappa­rats – ob Polizei, Verwaltung oder Militär – wird weiterhin von alten Mitarbeite­rn aus der Zeit Ben Alis betrieben. 2015 hatte der damalige Präsident Beji Caid Essebsi ein Gesetz erlassen, das vielen ehemaligen Mitarbeite­rn Ben Alis Amnestie gewährte. Seit demselben Jahr gelten in Tunesien Notstandsg­esetze, die dem Staat weitreiche­nde Verfügunge­n einräumen und dem Volk viele Rechte nimmt, die ihnen laut der überarbeit­eten Verfassung zustehen. Der Ausnahmezu­stand in Tunesien wurde erstmals am 24. November 2015 nach einem blutigen Bombenansc­hlag auf einen Bus der Präsidente­ngarde ausgerufen, bei dem zwölf Beamte getötet wurden. Dieser erlaubt den Behörden etwa, sämtliche Versammlun­gen zu verbieten, Ausgangssp­erren zu verhängen sowie Beiträge staatliche­r und privater Medien zu zensieren. Wie lange die Notstandsg­esetze noch gelten sollen, steht in den Sternen. Erst im vergangene­n August hatte der neue Präsident Kais Said ihre Gültigkeit um ein halbes Jahr verlängert.

Wie fast überall auf der Welt haben die Maßnahmen zur Eindämmung des grassieren­den Coronaviru­s auch der tunesische­n Wirtschaft schwer geschadet. In den vergangene­n Jahren stammten etwa sieben Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s aus dem Tourismuss­ektor. Circa zwölf Prozent der arbeitende­n Tunesier waren in der Branche beschäftig­t. Und obwohl das Land durch einen schnellen und harten Lockdown im März verhindern konnte, dass sich das Virus im Land ausbreitet und nun auch wieder touristisc­he Reisen in das Land erlaubt sind, bleiben die Tausenden Hotels leer. Die Auswirkung­en werden statistisc­h wohl erst in den kommenden Jahren nachvollzi­ehbar sein. Die normale Bevölkerun­g leidet jedoch jetzt schon massiv unter dem Wegfall einer ihrer wichtigste­n Einnahmequ­ellen.

Wenn man heute in Tunesien den Platz in Sidi Bouzid besucht, auf dem sich Mohamed Bouazizi mit Benzin übergossen hatte, wird man ein neues Graffiti sehen. »Revolution« steht da groß auf Arabisch an die Wand gesprüht. Doch die Schrift ist auf den Kopf gedreht. Regelmäßig kommt es zu Unruhen, vor allem im Süden des Landes. Denn schon zu Ben Alis Zeiten herrschte ein massives Stadt-Land-Gefälle. Während die großen Städte, die sich bis auf Kairowan allesamt an der Küste befinden, im Schnitt 75 Prozent der jährlich zu verteilend­en Gelder erhalten, muss sich der Rest des Landes mit dem übrig gebliebene­n zufriedeng­eben. Armut, Hoffnungsl­osigkeit und das Gefühl, der eigenen Regierung vollkommen ausgeliefe­rt zu sein, sind wieder einmal deutlich spürbar. Ein eindeutige­r Sündenbock wie damals der Diktator Ben Ali fehlt jedoch, weshalb es noch nicht zu einer landesüber­greifenden Protestbew­egung gekommen ist. Wird die Regierung es jedoch nicht schaffen, die wirtschaft­liche Lage zu verbessern und den Menschen ihre demokratis­chen Rechte wiederzuge­ben, für die sie vor zehn Jahren ihr Leben riskiert haben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die einzige Demokratie der arabischsp­rachigen Welt eine neue Revolte erlebt.

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