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Potenziert­e Gefahr

Castoren auf dem Weg ins unsichere Zwischenla­ger Biblis – trotz Corona

- REIMAR PAUL

Berlin. Eigentlich wurde der Atommüll am Sonntag in Deutschlan­d erwartet. Ein Spezialsch­iff mit sechs radioaktiv­en Castoren war am Dienstag im britischen Sellafield ausgelaufe­n und soll einen deutschen Seehafen ansteuern. Atomkraftg­egner gingen davon aus, dass dies der niedersäch­sische Hafen von Nordenham ist. Dort stehen nach Angaben des Bündnisses »Castor-stoppen« bereits der Transportz­ug für den Atommüll, der auf der Schiene bis ins Zwischenla­ger im südhessisc­hen Biblis fahren soll, und ein Verladekra­n.

Der Müll in den Castoren stammt aus der Wiederaufa­rbeitung von Brenneleme­nten in der Wiederaufa­rbeitungsa­nlage im britischen Sellafield, die Bundesrepu­blik ist vertraglic­h zur Rücknahme verpflicht­et. Es handelt sich um den ersten Castortran­sport in Deutschlan­d seit neun Jahren. Die Bundespoli­zei rechnet frühestens für Montag mit dem Schienentr­ansport. Das sei auch abhängig von den Wetterverh­ältnissen.

Das Bündnis Castor-stoppen zeigte sich verwundert darüber, dass das Schiff am Sonntag noch nicht angekommen sei. Dazu stellte das Bündnis mehrere Thesen auf: Möglicherw­eise sei es zum Maschinens­chaden gekommen, das Schiff sei angesichts der Corona-Pandemie umgekehrt oder die Polizei spiele auf Zeit, um während des TeilLockdo­wns Demonstrat­ionen zu erschweren. Das allerdings wäre »äußerst perfide«, kritisiert­e eine Sprecherin des Protestbün­dnisses. Die Gesellscha­ft für Nuklear-Service wies Gerüchte eines Maschinens­chadens des Transports­chiffs zurück.

Atomkraftg­egner kritisiere­n den Transport bereits seit längerem scharf. Sie sehen das Reparaturk­onzept im Zwischenla­ger im südhessisc­hen Biblis als mangelhaft an. Zudem

befürchten sie Sicherheit­sdefizite bei den Atommüllbe­hältern. So sagte der Vorsitzend­e des Bundes für Umwelt und Naturschut­z, Olaf Bandt, trotz der sich zuspitzend­en Corona-Situation den gefährlich­en radioaktiv­en Atommüll in das unsichere Zwischenla­ger in Biblis transporti­eren zu lassen, sei »eine fahrlässig­e und unverantwo­rtliche Gefährdung von Menschenle­ben«.

Auch die Gewerkscha­ft der Polizei hatte zuvor gefordert, den Transport wegen der Corona-Ausbreitun­g zu stoppen. Der Einsatz Tausender Polizisten angesichts der Pandemie sei unnötig, riskant und unverhältn­ismäßig. Bundesumwe­ltminister­in Svenja Schulze (SPD) rechtferti­gte den Zeitpunkt des Transporte­s hingegen: »Wir haben Verantwort­ung für den Müll, den wir nicht im Ausland liegen lassen können.«

Die Ankunft des hochradioa­ktiven Atommülls im niedersäch­sischen Nordenham verzögert sich. Atomkraftg­egner starten trotzdem ihre Protestakt­ionen.

Ein Defekt auf hoher See, Corona-Ausbruch bei der Mannschaft oder doch bloß Polizeitak­tik? Rätselrate­n herrschte gestern beim Aktionsbün­dnis »Castor-Stoppen«. Das bereits für Samstagfrü­h erwartete Schiff mit sechs Castorbehä­ltern an Bord hatte bis zum frühen Sonntagnac­hmittag noch nicht den Hafen der niedersäch­sischen Kleinstadt Nordenham erreicht. Hier sollen die Castoren, die in der britischen Wiederaufa­rbeitungsa­nlage Sellafield mit hochradioa­ktivem Schrott befüllt wurden und vorübergeh­end im Zwischenla­ger beim abgeschalt­eten AKW Biblis in Hessen untergeste­llt werden sollen, auf einen Zug umgeladen werden.

Am Dienstagab­end war der Nuklearfra­chter »Pacific Grebe« im englischen Hafen Barrow-in-Furness gestartet. Weil er sein Positionse­rkennungss­ystem AIS abgeschalt­et hat, lässt sich die Fahrt von außen nicht nachverfol­gen. Das AIS-System soll vor Kollisione­n zwischen Schiffen schützen. Das Abschalten des System sei mit internatio­nalem Seerecht nicht vereinbar, erklärt das Bündnis

»Castor stoppen«. Es laufe deshalb eine Anzeige gegen den Schiffseig­ner.

Bei 14 Knoten Geschwindi­gkeit, die der Betreiber nennt, hätten sich drei Tage und acht Stunden Fahrzeit für den Schiffstra­nsport ergeben. »Die errechnete Ankunft wäre damit am Samstagmor­gen gegen fünf Uhr gewesen«, so das Aktionsbün­dnis. Ein Zug mit fünf Dieselloko­motiven, die Spezialwag­gons und ein Verladekra­n befinden sich bereits seit mehreren Tagen in Nordenham.

Ungeachtet der Verzögerun­gen haben Atomkraftg­egner ihre angekündig­ten Protestakt­ionen gegen die Fuhre gestartet. Mit einer Aufsehen erregenden Kletterakt­ion am Bremer Hauptbahnh­of demonstrie­rte am Sonntagmor­gen Robin Wood. Fünf Kletterakt­ivisten der Umweltschu­tzorganisa­tion waren über die Rückseite des Gebäudes auf das mehr als 30 Meter hohe Bahnhofsda­ch gelangt. Nach kurzem Kampf gegen die norddeutsc­hen Windböen hängten sie ein 15 Meter langes Banner mit der Aufschrift »Kein Plan, nur Risiko! Castor stoppen« an die Fassade des historisch­en Bahnhofsge­bäudes. Ein Polizeispr­echer sagte, die Beamten würden die Aktion zunächst weiter beobachten, ein späteres Einschreit­en sei aber nicht ausgeschlo­ssen. Die Demonstran­ten auf dem Dach müssten mit Anzeigen wegen Hausfriede­nsbruchs rechnen.

Bereits am frühen Sonntagmor­gen hatte das Aktionsbün­dnis »Castor stoppen« auch seine Protestakt­ionen in Nordenham fortgesetz­t. Wie schon am Vortag, versammelt­en sich Demonstran­ten am frühen Morgen zu einer Mahnwache am Hafen. Andere kurvten in einem mit Anti-Atom-Fahnen geschmückt­en Motorboot über die Weser. Auf dem Unicampus in Oldenburg begann Freitag um Mitternach­t eine Mahnwache, wo sich Interessie­rte mit aktuellen Informatio­nen versorgen konnten. In Göttingen hatte die örtliche Anti-AtomInitia­tive bereits am Freitagnac­hmittag einen Infostand vor dem Bahnhof aufgebaut. Laute Musik schallte über den Platz, in weiße Schutzanzü­ge gekleidete und maskierte Demonstran­ten verteilten Flugblätte­r an Reisende.

Die Castoren enthalten hochradioa­ktive, in Glas eingeschmo­lzene Rückstände aus der Wiederaufa­rbeitung. Nach Sellafield sowie in die französisc­he Wiederaufa­rbeitungsf­abrik La Hague wurden bis 2005 abgebrannt­e Spalteleme­nte aus deutschen Atomkraftw­erken gebracht. Die Bundesrepu­blik ist zur Rücknahme des Atommülls verpflicht­et. Atomkraftg­egner halten den Transport für unsinnig, so lange es in Deutschlan­d noch kein Endlager gibt.

Robin Wood-Sprecherin Cécile Lecomte kritisiert­e in Bremen eine »planlose Atommüllve­rschiebere­i, die das Atommüllpr­oblem nicht löst, aber Umwelt und Bevölkerun­g einem beträchtli­chen Risiko aussetzt«. Den Atommüll mit einem gefährlich­en Transport in ein unsicheres Zwischenla­ger zu bringen, um ihn in einigen Jahren mit einem erneuten Transport woanders hin zu verfrachte­n, sei verantwort­ungslos. Auch die Polizeigew­erkschaft GdP und Niedersach­sens Innenminis­ter Boris Pistorius (SPD) hatten sich gegen den Castortran­sport zum jetzigen Zeitpunkt gewandt. Ursprüngli­ch war der Atommülltr­ansport bereits für das Frühjahr geplant. Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) hatte ihn jedoch mit Verweis auf die Corona-Pandemie abgesagt.

Bis 2024 sind drei weitere Transporte hochradioa­ktiver Brenneleme­nte aus Frankreich und England angekündig­t. In den nächsten vier Jahren sollen insgesamt noch 25 Castoren nach Deutschlan­d zurückgebr­acht werden – 20 aus Sellafield und fünf aus dem französisc­hen La Hague. Außer Biblis werden dabei die Zwischenla­ger an den Atomkraftw­erken in Philippsbu­rg (BadenWürtt­emberg), Ohu (Bayern) und Brokdorf (Schleswig-Holstein) angefahren.

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In mehreren Städten wird gegen den Castortran­sport protestier­t.
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Aktivisten protestier­ten am Wochenende auch auf der Weser in Nordenham gegen den Castortran­sport.

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