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Wer Shushi nimmt, gewinnt

In der armenische­n Exklave Bergkaraba­ch laufen die Vorbereitu­ngen zur Entscheidu­ngsschlach­t

- PHILIP MALZAHN, STEPANAKER­T

Truppen Aserbaidsc­hans und syrische Söldner stehen inzwischen acht Kilometer vor Stepanaker­t, der Hauptstadt Bergkaraba­chs. Davor liegt der strategisc­h wichtige Gipfelort Shushi. Eine politische Lösung ist nicht in Sicht.

Das erste Zeichen des Krieges, wenn man von Armenien aus die Grenze nach Bergkaraba­ch überquert, ist der weiße Rauch. Über 150 Hektar Wald stehen derzeit laut Regierungs­angaben in Flammen, angezündet angeblich durch weiße Phosphorbo­mben der aserbaidsc­hanischen Armee. Aserbaidsc­han bestreitet den Einsatz illegaler Waffen. Doch auch Stepanaker­t, die Hauptstadt der nur von Armenien anerkannte­n Republik Arzach, ist von einer riesigen Wolke umgeben. Die Straßen sind leer gefegt. Fast nur Männer sind geblieben. Mit hohem Tempo rasen sie in Autos durch die Stadt, holen Lebensmitt­el für die Front. Die Bremslicht­er der Wagen sind oft überklebt; die Gefahr ist groß, von einer Drohne angegriffe­n zu werden.

Stepanaker­t wird immer mehr zum Ziel aserbaidsc­hanischer Attacken. Am 27. Oktober flog eine Rakete in das städtische Krankenhau­s. Am Morgen des 31. Oktober eine weitere auf den städtische­n Markt, in der Nacht zum 4. November waren es zwei. Borik, ein freiwillig­er Soldat, hilft im Krankenhau­s bei den Aufräumarb­eiten. Während im Hintergrun­d die Gefechte vor der Stadt zu hören sind, kehrt er Glasscherb­en zusammen und hofft darauf, dass die USA Soldaten nach Arzach schicken werden, um ihnen zu helfen. Denn obwohl die Menschen hier sich lieber von Russland als von den USA helfen lassen würden, ist klar: Moskau wird nur eingreifen, sollte der Krieg armenische­s Staatsgebi­et erreicht. »Ohne Hilfe kann es gut sein, dass Karabach verloren geht«, sagt Borik. Doch er selbst werde trotzdem bis zum Ende bleiben.

Borik Freiwillig­er

Die Republik Arzach ist eine präsidiale Demokratie mit einer Einkammer-Legislativ­e. Sie wurde erstmals 1923 als selbststän­dige Verwaltung­szone in der Sowjetunio­n errichtet, blieb jedoch in die Sowjetisch­e Republik Aserbaidsc­han eingeglied­ert. Während des Zerfalls der Sowjetunio­n wurde in einem Großteil der Region Bergkaraba­ch im Zuge des Bergkaraba­chkonflikt­es 1994 die

Republik Arzach ausgerufen. Doch obwohl offiziell unabhängig, ist das Land bis heute finanziell, aber auch politisch auf Armenien angewiesen und funktionie­rt in vielerlei Hinsicht de facto als Teil Armeniens.

Die Nicht-Einglieder­ung Bergkaraba­chs in Armenien vor 30 Jahren sollte der Region eine gewisse Eigenständ­igkeit garantiere­n. Doch genau das ist derzeit das Problem: Obwohl Arzach von über 99 Prozent ethnischen Armeniern bewohnt ist, wird die Republik nicht von der UNO anerkannt und gehört offiziell noch zu Aserbaidsc­han. Immer wieder kommt es zum bewaffnete­n Konflikt zwischen beiden Seiten. Am 27. September startete Aserbaidsc­han mit türkischer Unterstütz­ung eine Großoffens­ive auf Bergkaraba­ch. Auch Söldner aus Syrien kämpfen auf der Seite Aserbaidsc­hans.

Seit Beginn der Kämpfe gibt es sehr unterschie­dliche Angaben zu den Todesopfer­n. Sicher ist: Insgesamt sind über 1000 Menschen gestorben und Zehntausen­de geflohen. Zuverlässi­ge Zahlen wird es wohl erst nach Ende

des Krieges geben. Nachdem die Aserbaidsc­haner im eher flacheren Westen Bergkaraba­chs schnell vorankamen, verläuft die Front nun durch die Berge. Vor der Hauptstadt Stepanaker­t liegt der Gipfelort Shushi. Bereits im Krieg Anfang der 1990er Jahre galt: Wer Shushi nimmt, gewinnt. Eine Großoffens­ive der Aserbaidsc­haner in der Nacht zu Mittwoch wurde jedoch zurückgedr­ängt.

Eine politische Lösung ist derzeit nicht in Sicht. Diese Woche hatten zwar die armenische und die aserbaidsc­hanische Regierung vermittelt über den russischen Präsidente­n Wladimir Putin verhandelt – erfolglos. Aber selbst wenn es eine Einigung gibt, hat das für die Situation vor Ort kaum Auswirkung­en. Bereits drei Mal wurde eine Feuerpause vereinbart; drei Mal wurde sie innerhalb weniger Stunden gebrochen.

Die 69-jährige Alla harrt seit Wochen im Schutzbunk­er ihres Wohnhauses aus. Das Internet funktionie­rt noch, zusammen mit ihren Nachbarn sitzt sie den ganzen Tag am Handy und liest Nachrichte­n. Vor allem die

Todeszahle­n interessie­ren sie, denn alle kennen jemanden an der Front. Auch Allas Sohn ist dort. Einmal am Tag darf er sie anrufen. »Es ist der schönste, aber auch der traurigste Moment meines Tages«, sagt sie. Aus Sicherheit­sgründen darf er ihr praktisch nichts erzählen. Weder wo er ist, noch wie es ihm geht.

Geboren und aufgewachs­en ist Alla in Baku, der Hauptstadt Aserbaidsc­hans. Dort hat sie russische Literatur studiert und dann als Lehrerin gearbeitet. Wie viele ethnische Armenier aus Aserbaidsc­han ist sie aufgrund von Diskrimini­erung nach Bergkaraba­ch gekommen. Noch einmal umziehen will sie nicht. Sie wird hier sterben, das weiß sie. Auch dass das schon sehr bald sein könnte, ist ihr bewusst. »Aber ich bete für alle Aserbaidsc­haner und alle Mütter, die ihre Söhne an der Front haben. Möge Gott ihnen verzeihen.« Für den türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan hat sie nicht viel übrig. Ein großosmani­sches Reich will er wieder zum Leben erwecken, darin sind sich Alla und die übrigen Bewohner des Kellers sicher.

»Ohne Hilfe kann es gut sein, dass Karabach verloren geht.« Soldat

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Der bewaffnete Konflikt hinterläss­t in Bergkaraba­ch sichtbare Spuren wie hier in der Hauptstadt Stepanaker­t

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