»Trumps Vorwürfe sind haltlos«
Auch zwei Tage nach den Präsidentschaftswahlen in den USA steht noch kein Sieger fest. Dabei wird immer noch um jede Stimme gerungen. Im umkämpften Pennsylvania demonstrierten Linke für eine vollständige Auszählung
Proteste nach Wahlen in den USA / OSZE sieht keine Unregelmäßigkeiten
Washington. Rund um die Auszählung der Wahlstimmen in den USA ist es in mehreren Städten zu teils gewaltsamen Protesten gekommen. In Portland im Bundesstaat Oregon gab es am Mittwochabend Ausschreitungen am Rande einer Demonstration. Zahlreiche Menschen forderten dort, jede Stimme zu zählen. Laut Medienberichten wurden Schaufensterscheiben zerstört. Die Polizei sprach von geladenen Waffen, die gefunden wurden, und Feuerwerkskörpern, die auf Polizisten geworfen worden seien. Die Nationalgarde sei aktiviert worden. In New York City kam es nach einem Bericht der »New York Times« zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Letztere meldete, sie habe mehr als 20 Personen festgenommen, die einen friedlichen Protest hätten kapern wollen. Auch aus Chicago und Philadelphia wurden Proteste gemeldet, in Minneapolis blockierten nach Angaben der »New York Times« Hunderte Demonstranten eine Bundesstraße.
Die Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa haben bei der US-Wahl bisher keine Unregelmäßigkeiten festgestellt. Man habe »keinerlei Hinweise auf systemische Probleme finden können« und eine »außerordentlich professionelle Handhabung der Flut von Briefwahlstimmen erlebt«, sagte der Leiter der OSZE-Mission, Michael Georg Link. »Trumps Manipulationsvorwürfe sind haltlos.« Die OSZE ist mit 102 Wahlbeobachtern aus 39 Ländern in den USA im Einsatz, darunter mehrere Bundestagsabgeordnete. Donald Trump hatte sich in der Wahlnacht vor Auszählung aller Stimmen zum Sieger erklärt und angekündigt, eine weitere Auszählung vom Obersten US-Gericht stoppen lassen zu wollen. Für Link war das »ein grober Missbrauch des Amtes«.
Im umkämpften Bundesstaat Pennsylvania gewährte ein Berufungsgericht am Donnerstag Trumps Wahlbeobachtern das Recht, die Auszählung mit einem Abstand von nur noch zwei Metern von den Wahlhelfern zu überwachen. Das ursprüngliche Hygienekonzept hatte mehr als fünf Meter vorgesehen. Das Zählen der Stimmen wurde aber nicht gestoppt. Trumps Team geht in einer weiteren Klage dagegen vor, dass Briefwahlstimmen gezählt werden dürfen, die bis Freitag bei der Wahlkommission eingehen. Trump lag in Pennsylvania lange vorn, sein Vorsprung schrumpfte aber zuletzt. Das Ergebnis der US-Präsidentenwahl stand bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe am Donnerstagabend noch nicht fest.
Das große Chaos und Massendemonstrationen nach der US-Wahl blieben Mittwochnacht vorerst aus. Unterdessen hätten sich viele linke Demokraten einen offensiveren Wahlkampf gewünscht.
»Zählt jede Stimme!« projizieren die Demonstranten vor dem Allegheny County Courthouse auf eine Wand. Sie stehen vor dem mächtigen Steingebäude des Gerichts des Landkreises von Pittsburgh. Die Stadt war einst Hochburg der US-Stahlproduktion und ist immer noch die zweitgrößte Stadt in Pennsylvania. Der Staat ist vielleicht der wichtigste Swing State bei der US-Präsidentschaftswahl. Einen Tag nach der Wahl richten sich plötzlich viele Augen auf wenige noch nicht entschiedene Bundesstaaten. Pennsylvania könnte da ausschlaggebend sein und Joe Biden über die Schwelle von 270 Wahlmännerstimmen und damit zur Präsidentschaft verhelfen. Bis Donnerstagnachmittag konnte Biden mindestens 253 Wahlleute auf sich vereinen, Trump lediglich 214.
Weil das von Republikanern beherrschte Staatsparlament per Gesetz die Zählung schon vor dem Wahltag eingegangener Briefwahlstimmen – dieses Jahr waren das wegen der Corona-Pandemie besonders viele – verboten hatte, konnten die Wahlhelfer in Pennsylvania erst am Dienstag anfangen, die mehr als eine Million Briefwahlstimmen auszuzählen. Am Mittwochnachmittag reichte Rudy Guiliani, Trumps Mann fürs Schmutzige, eine Klage ein, um die Stimmenauszählung dort zu stoppen, auch in der afroamerikanischen Metropole Detroit versuchten Trumps Anhänger die Auszählung von Briefwahlstimmen mit einer Störaktion zu stoppen. Damit trotz Guilianis Klage weiter gezählt wird, sind die etwa 200 linken Demonstranten in der Innenstadt von Pittsburgh zusammengekommen. Sie protestieren präventiv.
Es sind Klimaaktivisten von Sunrise, junge Mitglieder der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, Aktivisten der Democratic Socialists of America sowie der US-Grünen, die sich zur Spontandemonstration versammelt haben. Sie rufen: »Trump lügt, Trump betrügt, lasst uns dagegen auf die Straße gehen.« Viele hier denken, was auch andere Linke in den USA immer wieder sagten: dass die Demokraten sich nicht aggressiv genug gegen Wählerunterdrückung und Machtpolitik der Republikaner verteidigen und die Linke teilweise ihre Arbeit erledigen muss. »Wir müssen eine Wiederholung von Florida 2000 verhindern«, sagt Andrew Dinkelaker gegenüber »nd«. Der Geschäftsführer der United Electrical Workers meint, damals hätten die Demokraten sich »überrollen« lassen. So gab es vor 20 Jahren Zweifel an einer korrekten Stimmenauszählung in Florida. Der konservativ dominierte Oberste Gerichtshof verbot jedoch eine Neuauszählung, weshalb Floridas Wahlleute dem Republikaner George W. Bush zugeschlagen wurden – dadurch gewann er die Präsidentschaft. Gegen eine Wiederholung dieser Ereignisse gehen Gewerkschafter wie Dinkelaker am Mittwochabend in Philadelphia, Lancaster sowie in anderen Städten der USA auf die Straße.
Doch meist sind es wie in Philadelphia nur wenige Hundert. Massendemonstrationen bleiben aus. Der Grund: Mehrere große zivilgesellschaftliche Bündnisse wie »Stand Up America« und »Protect the Vote« verschieben ihre Demonstrationen auf einen Tag später oder verkünden per E-Mail-Liste »noch nicht zu mobilisieren«. Zwar sind einige Geschäfte in der Innenstadt mit Holzplatten vernagelt, doch zum vorher befürchteten Nachwahlchaos kommt es am Mittwochabend nicht.
In Pennsylvania sank der Vorsprung von Donald Trump in der Nacht stetig. »Am Ende wird es hier nicht knapp sein«, erklärt Nate Cohn, Zahlenguru der »New York Times« auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Wahlanalyst Dave Wassermann vom unabhängigen Cook Political Report zieht auf dem Kurznachrichtendienst einen Vergleich zu 2016: »Nach derzeitigem Stand wird Biden sowohl in Wisconsin, Michigan als auch in Pennsylvania einen höheren Stimmenvorsprung haben, als Trump vor vier Jahren in allen drei Staaten gegenüber Clinton erreichte«.
In Nevada und Arizona liegt Biden knapp vor Trump, doch diese Staaten bleiben Mittwochnacht unentschieden. Selbiges gilt für den Ostküstenstaat North Carolina, in dem Trump führt. Ein echter Auszählungskrimi spielt sich derweil in Georgia ab, wo die zuletzt nach und nach eintreffenden Stimmen aus der Metropole Atlanta einen hauchdünnen Sieg von Joe Biden möglich erscheinen lassen. Mit einem dieser vier Staaten würde Biden gewinnen – im besten Fall gar mit 321 Wahlmännerstimmen.
Trotzdem bestätigt das Ausbleiben eines zuvor erhofften deutlichen Erdrutschsieges die Warnungen der Linken im Land. Man habe Latino-Wähler nicht ausreichend angesprochen, beim Wahlkampf zu wenig soziale Themen nach vorne gestellt, zu wenig Haustürwahlkampf betrieben. Den hatte Team Biden in der Pandemie landesweit mit Ausnahme von Last-Minute-Nachbarschaftstürbesuchen ausgesetzt. Der linke Filmemacher Michael Moore etwa – er hatte 2016 einen Wahlsieg für Donald Trump vorhergesagt – hatte das vor der Wahl mehrfach kritisiert und vergeblich eine Ausweitung des »ground games« gefordert.
Bezeichnend ist, dass sich in Arizona, das vermutlich an Biden gehen wird, linke Latino-Aktivisten sich der Linie der Biden-Kampagne sowie der Parteiführung widersetzt und trotzdem Haustürwahlkampf in pandemiekompatibler Form gemacht hatten. Ähnliches taten die Abgeordneten Ilhan Omar und Rashida Tlaib, die zum linken Flügel der Demokraten gehören. Ihr Engagement steigerte die Wahlbeteiligung in den Großstädten Minneapolis und Detroit. Damit glichen die beiden Frauen vermutlich die hohe Wahlbeteiligung von Trumps Wählern in ländlichen Wahlkreisen aus und trugen einen wichtigen Teil dazu bei, das Biden in den Bundesstaaten Minnesota und Michigan gewann.
Bei den Wahlen zum US-Senat bleiben die Demokraten wie auch Joe Biden mehrere Prozentpunkte hinter der zuvor in Umfragen gemessenen Zustimmung zurück und verfehlen es deswegen vermutlich, eine Mehrheit der Mandate zu erreichen, weil sie zwar in Colorado und Arizona gewinnen, aber im tiefkonservativen Alabama verlieren. Chancen auf weitere Sitze im Senat haben die Demokraten nur noch für Georgia, wo zwei Mandate in die Stichwahl am 5. Januar gehen könnten, für North Carolina, wo der republikanische Amtsinhaber Thom Tillis mit 1,8 Prozentpunkten vorne liegt und für Alaska, wo nur etwas mehr als die Hälfte der Stimmen ausgewertet ist.
Damit wird immer wahrscheinlicher, dass Joe Biden im Falle eines Wahlsieges nur mit präsidialen Erlassen regieren, aber kaum Gesetze auf den Weg bringen könnte. Schließlich könnten die durch eine knappe Mehrheit der Republikaner im Senat verhindert werden.
Auch bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus, neben dem Senat die zweite Kammer des Kongresses, liegen die Ergebnisse für die Demokraten hinter den Erwartungen zurück. Trotzdem konnten sie ihre Mehrheit aller Voraussicht nach verteidigen.
»Trump lügt, Trump betrügt, lasst uns dagegen auf die Straße gehen.« Linke Demonstranten Pittsburgh