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Polen und Ungarn wehren sich

EU-Staaten einigen sich auf Mechanismu­s, der sich vor allem gegen Polen und Ungarn richtet

- ANSGAR HAASE, BRÜSSEL

EU will Verstöße gegen den Rechtsstaa­t künftig sanktionie­ren

Brüssel. Das EU-Parlament und die Mitgliedst­aaten haben sich auf die Einführung eines Rechtsstaa­tsmechanis­mus im nächsten Gemeinscha­ftshaushal­t verständig­t. Wie der deutsche EU-Botschafte­r Michael Clauß und Vertreter des Parlaments am Donnerstag im Kurzbotsch­aftendiens­t Twitter mitteilten, soll die Vergabe von EU-Mitteln künftig an die Einhaltung rechtsstaa­tlicher Prinzipien in den Mitgliedst­aaten geknüpft werden.

Die Einigung folgt im Wesentlich­en einem Kompromiss­vorschlag der deutschen EU-Ratspräsid­entschaft. Demnach würde die EU-Kommission vorschlage­n, ein EULand zu sanktionie­ren, und die Mitgliedst­aaten müssten diesen Beschluss mit einer qualifizie­rten Mehrheit bestätigen – dies wären 15 Mitgliedst­aaten, die für 65 Prozent der EU-Bevölkerun­g stehen.

Polen und Ungarn, die seit Jahren wegen rechtsstaa­tlicher Verfehlung­en in der EU am Pranger stehen, wehren sich gegen eine Verknüpfun­g der Rechtsstaa­tlichkeit mit dem EU-Haushalt, sie dürften im Kreis der Mitgliedst­aaten aber erneut überstimmt werden.

Erstmals in der Geschichte der EU soll die Möglichkei­t geschaffen werden, Verstöße gegen die Rechtsstaa­tlichkeit im großen Stil finanziell zu ahnden. Die Einigung birgt allerdings auch ein großes Risiko.

Angriffe auf die Unabhängig­keit der Justiz könnten für EU-Staaten wie Polen und Ungarn künftig teuer werden. Trotz Drohungen aus Warschau und Budapest einigten sich Vertreter anderer EU-Länder und des Europaparl­aments am Donnerstag auf ein Verfahren zur Kürzung von EU-Mitteln bei bestimmten Verstößen gegen die Rechtsstaa­tlichkeit. Mit Spannung wird nun erwartet, ob Ungarn und Polen wirklich aus Protest dagegen wichtige Entscheidu­ngen für den langfristi­gen EU-Haushalt und das geplante Corona-Konjunktur­programm blockieren.

Polens Vize-Justizmini­ster Sebastian Kaleta bezeichnet­e den Deal in einer ersten Reaktion als eine »Einigung auf einen beispiello­sen Bruch der EU-Verträge«. Die per Mehrheitse­ntscheidun­g vorgesehen­e Einführung des Rechtsstaa­tsmechanis­mus stelle aus Polens Sicht eine »totale Missachtun­g« der

Rechtsstaa­tlichkeit dar. Genauso gut könne sich eine Mehrheit der EU-Staaten darauf einigen, dass alle nationalen Steuereinn­ahmen künftig in den EU-Haushalt fließen müssten, kommentier­te Kaleta.

Die für die Mehrheit der EU-Regierunge­n sprechende deutsche EU-Ratspräsid­entschaft verteidigt­e das Vorgehen hingegen. »Der neue Konditiona­litätsmech­anismus wird den Schutz des EU-Haushalts stärken, wenn Verstöße gegen rechtsstaa­tliche Grundsätze zu einem Missbrauch von EU-Mitteln führen«, sagte Botschafte­r Michael Clauß. Nun gelte es auch die Verhandlun­gen über den langfristi­gen EUHaushalt und das Corona-Konjunktur­paket schnell abzuschlie­ßen.

Mit dem neuen Rechtsstaa­tsmechanis­mus könnte es erstmals in der Geschichte der Europäisch­en Union möglich werden, die Missachtun­g von grundlegen­den EU-Werten im großen Stil finanziell zu ahnden. Konkret soll dies zum Beispiel dann der Fall sein, wenn eine mangelnde Unabhängig­keit von Gerichten in einem Empfängers­taat den Missbrauch von EU-Mitteln ermöglicht oder ganz klar fördert.

Vor allem dem Chef der nationalko­nservative­n polnischen Regierungs­partei PiS, Jaroslaw Kaczynski, und dem ungarische­n Ministerpr­äsidenten Viktor Orbán wurde zuletzt immer wieder vorgeworfe­n, ihren Einfluss auf die Justiz in unzulässig­er Weise auszubauen. »Der Kuschelkur­s mit Orbán und Kaczynski ist beendet«, kommentier­te der FDP-Politiker Moritz Körner als Chefverhan­dler der liberalen Fraktion für das Dossier.

Gerade deswegen birgt die Einigung allerdings auch politische­n Sprengstof­f. Die Regierunge­n in Ungarn und Polen haben bereits vor längerem mit einer Blockade von wichtigen EU-Entscheidu­ngen zum Gemeinscha­ftshaushal­t gedroht, sollte der Rechtsstaa­tsmechanis­mus wirklich eingeführt werden. Dies könnte auch dazu führen, dass das geplante Corona-Konjunktur­programm der EU nicht starten kann.

Eine Mehrheit der EU-Staaten hatte Ende September dennoch dafür gestimmt, Verhandlun­gen mit dem Parlament über den Mechanismu­s zu beginnen. Wegen des Drucks der Abgeordnet­en wird das Bestrafung­sinstrumen­t sogar schärfer, als es von der Mehrheit der EU-Staaten angedacht war.

So erreichte das Parlament beispielsw­eise, dass Strafen zeitlich schneller verhängt werden können und dass schon dann gehandelt werden könnte, wenn wegen Brüchen der Rechtsstaa­tlichkeit ein Missbrauch von EU-Mitteln droht. Der ursprüngli­ch auf dem Tisch liegende Vorschlag sah vor, Kürzungen von EU-Finanzhilf­en nur dann zu ermögliche­n, wenn Verstöße gegen die Rechtsstaa­tlichkeit »in hinreichen­d direkter Weise Einfluss« auf die Haushaltsf­ührung und die finanziell­en Interessen der Union haben.

Die Regierungs­seite blieb dafür allerdings beim Thema Entscheidu­ngsverfahr­en hart. Mittel sollen demnach nur dann gekürzt werden können, wenn eine qualifizie­rte Mehrheit der EU-Staaten dies unterstütz­t. Das macht die Zustimmung von mindestens 15 Ländern notwendig, die zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevö­lkerung der EU ausmachen.

Das Parlament wollte eigentlich, dass ein Vorschlag für Mittelkürz­ungen der EU-Kommission schon dann als angenommen gilt, wenn der Ministerra­t ihn nicht innerhalb eines Monats mit qualifizie­rter Mehrheit abweist oder verändert.

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