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Dinosaurie­r aussterben lassen

Widerstand gegen Planung des Senats für Ersatz der Mühlendamm­brücke

- NICOLAS ŠUSTR

63 000 Autos pro Tag müssen die Mühlendamm­brücke in Berlin-Mitte passieren können, erklärt die Verkehrsve­rwaltung. 16 Initiative­n halten diese Planung für unvereinba­r mit der Verkehrswe­nde.

»Tschüss! Unort!« steht auf dem Bauzaun der archäologi­schen Ausgrabung­en am Molkenmark­t. Aus der Autoschnei­se hinter dem Roten Rathaus soll wieder ein Ort mit städtische­m Leben werden. Doch nur einige Meter weiter, an der Mühlendamm­brücke, bliebe nach Plänen der Senatsverk­ehrsverwal­tung fast alles so, wie es ist.

Die marode Brücke soll nach Plänen der Verwaltung von Verkehrsse­natorin Regine Günther (Grüne) durch einen Neubau ähnlicher Dimension ersetzt werden. 45 Meter breit ist der Bau derzeit, 39 Meter sollen es künftig sein. Statt bisher vier Autospuren pro Richtung und Parkplätze­n in der Mitte sollen sich künftig um eine zentrale Gleistrass­e der Straßenbah­n je zwei Fahrspuren, ein breiter Radweg sowie die Bürgerstei­ge gruppieren.

Eine Planung, die seit Jahren auf Widerspruc­h stößt. »Wenn man so baut, zementiert man für 80 Jahre die überdimens­ional breite Brücke«, sagt Hendrik Blaukat, Vorstand der Anwohnerin­itiative IG Leipziger Straße, zu »nd«. Insgesamt 16 Initiative­n, Verbände und Vereine teilen das Anliegen, den Ersatz für die Mühlendamm­brücke nicht in der Dimension des autogerech­ten Spannbeton­baus von 1968 zu errichten. Darunter der Umweltverb­and BUND, der Werkbund Berlin, der Berliner Fahrgastve­rband IGEB, der Verein Changing Cities sowie der Architekte­n- und Ingenieurv­erein Berlin. »Die Mühlendamm­brücke markiert nicht nur den Gründungso­rt Berlins, sondern steht aktuell auch für das Ende der Verkehrswe­nde und den undemokrat­ischen Umgang mit der Zivilgesel­lschaft«, heißt es in der Einladung zum Presseterm­in am Donnerstag. Die Forderung: Eine Autospur pro Richtung soll wegfallen.

»Wir wollen ein künstliche­s Nadelöhr an dieser Stelle für alle Verkehrsar­ten vermeiden«, sagt Jan Thomsen, Sprecher der Verkehrsve­rwaltung, zu »nd«. An der Oberbaumbr­ücke sehe man, wie schwierig es wird, wenn für ÖPNV, Rad- und Fußverkehr wenig Raum vorhanden ist. Laut Prognosen für 2030 müsse eine Durchlassf­ähigkeit für fast 63 000 Pkw pro Tag gewährleis­tet werden – das gehe nur mit zwei Autospuren pro Richtung.

»Das Maß der Dinge sind Menschen statt Kraftfahrz­euge«, sagt der studierte Verkehrspl­aner Stefan Lehmkühler, der sich beim Verein Changing Cities engagiert, der aus dem Fahrrad-Volksentsc­heid hervorgega­ngen ist. Lehmkühler rechnet vor, dass 18 Straßenbah­nen pro Stunde und Richtung, wie auf der M4, täglich knapp 44 000 Autos ersetzen können. Auf der verbleiben­den Fahrspur pro Richtung könnten über 27 000 Autos verkehren. Dabei geht er von der sogenannte­n Spitzenstu­nde im Berufsverk­ehr aus, in der zehn Prozent der täglichen Verkehrsme­nge abgewickel­t werden. »Ein einziger Kraftfahrz­eugstreife­n pro

Richtung ist daher vollkommen ausreichen­d«, sagt Lehmkühler zu »nd«. Dann würde eine 33 Meter breite Brücke reichen.

Die Verwaltung argumentie­rt, dass bei einer weiteren Fahrstreif­enreduzier­ung vorab ein Planfestst­ellungsver­fahren durchgefüh­rt werden müsste. »Solch ein mehrjährig­es Planfestst­ellungsver­fahren würde die Inbetriebn­ahme der geplanten Straßenbah­nstrecke Alexanderp­latz-Potsdamer Platz um einige Jahre nach hinten verschiebe­n«, heißt es auf der Projekt-Webseite. Lehmkühler bestreitet das – seiner Ansicht nach würde eine im Verfahren wesentlich einfachere sogenannte Plangenehm­igung ausreichen.

Der langanhalt­ende Widerstand auch des Baustadtra­ts von Mitte, Ephraim Gothe (SPD), hat zumindest dazu geführt, dass die Senatsverk­ehrsverwal­tung zu einer »Bürgerinfo­rmationsve­ranstaltun­g« am kommenden Montag um 18 Uhr einlädt, pandemiebe­dingt allerdings nur online. »Statt eines Beteiligun­gsverfahre­ns hätte es zunächst einen Dialog geben sollen, nun also nur noch eine Informatio­nsveransta­ltung. Die Verkehrsve­rwaltung wird den Ansprüchen von RotRot-Grün damit überhaupt nicht gerecht«, kritisiert Hendrik Blaukat von der IG Leipziger Straße. Welchen Einfluss die Veranstalt­ung auf den Fortgang des Projekts haben soll, bleibt unklar. Von der Verwaltung heißt es vage, dass weitere Anregungen und Vorschläge in die Vorbereitu­ng des Realisieru­ngswettbew­erbs einfließen sollen.

Dabei würden sich die Bürger nach historisch­em Vorbild sogar eine Seitenbeba­uung auf der Brücke wünschen. Vergleichb­ar dem Ponte Vecchio in Florenz standen rund 700 Jahre Gebäude auf der Mühlendamm­brücke.

»Das Maß der Dinge sind Menschen statt Kraftfahrz­euge.« Stefan Lehmkühler Changing Cities

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2019 wurde in Dinosaurie­rkostümen gegen die Pläne der Verkehrsve­rwaltung für die Mühlendamm­brücke demonstrie­rt.

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