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Seit der Finanzkris­e von 2008 florieren Verschwöru­ngstheorie­n. Wie ist diesem Boom verzerrter Elitenkrit­ik zu begegnen?

Von der Französisc­hen Revolution über die »BRD GmbH« zum »Staatsstre­ich« von Bill Gates: Wie Verschwöru­ngstheorie­n funktionie­ren, wann sie florieren – und wie man ihnen begegnet.

- Von Ingar Solty und Velten Schäfer

Seit Längerem kursiert im Internet ein Witz, mal als Cartoon und mal als Meme. Man sieht eine Herde Schafe, im Hintergrun­d den Hirten und den Hütehund. Da blökt ein schwarzes Schaf ganz aufgeregt: »Ich sag’s euch: Der Hund und der Mann arbeiten zusammen!« Doch gibt es wenig Reaktion in der Herde. Nur ein Schaf hält gelangweil­t dagegen: »Immer du und deine Verschwöru­ngstheorie­n!«

Um darüber zu lachen, muss man nicht jener Sorte politische­r Mythen anhängen, die man Verschwöru­ngstheorie­n nennt. Doch trifft die Pointe eine Grundhaltu­ng derer, die denselben anheimgefa­llen sind: die Überzeugun­g, keineswegs abwegige Zusammenhä­nge herzustell­en, sondern nur eins und eins zu addieren. Eine gewisse Verzweiflu­ng, dass die Mehrheit das Offensicht­liche nicht sehe. Das zugleich auch erhebende Trotzgefüh­l, ein schwarzes, sehendes Schaf zu sein. Und eine Verachtung gegenüber dem »Mainstream« der »Schlafscha­fe«, den – so der Jargon – sheeple.

Die Gegenwart bietet Anlass, das Phänomen und die Konjunktur­en von Verschwöru­ngstheorie­n – und »alternativ­en Fakten«, die aus solchen übergeordn­eten Mythen ihre Plausibili­tät beziehen – zu ergründen. Und dabei muss wohl die Frage am Anfang stehen, was deren Adepten von ihnen haben. Der aktuelle Boom von Verschwöru­ngstheorie­n und »Fake News« – der in der Pandemie einen Höhepunkt erreicht, jedoch lange davor eingesetzt hat – sollte aber auch historisch­es Interesse wecken: Wann erleben solche Orientieru­ngen Blütezeite­n? Welche Bedingunge­n von Öffentlich­keit und welche Verwerfung­en im Alltagsver­stehen leisten ihnen Vorschub? Doch bevor sich das auch hinsichtli­ch der Folgerunge­n diskutiere­n lässt, die progressiv­e Politik daraus ziehen könnte, muss versucht werden, das Phänomen zumindest grob zu definieren.

Neue Heimat für das Ich

Hierbei scheinen sich vier Eckpunkte anzubieten. Erstens haben Verschwöru­ngstheorie­n einen wie auch immer gearteten Realitätsb­ezug, auch wenn der oft nicht unmittelba­r ersichtlic­h wird. Im Grunde geht es dabei immer um Elitenkrit­ik. Selbst die bizarre Behauptung, der Flugverkeh­r diene tatsächlic­h dem Versprühen manipulier­ender Drogen, funktionie­rt nur vor diesem Hintergrun­d. Doch wird das Kontra, das man den Mächten und Mächtigen gibt, in Verschwöru­ngstheorie­n radikal simplifizi­ert und personalis­iert. Zuweilen schwingen antisemiti­sche Motive mit: Bill Gates, George Soros, die Rothschild­s oder »Bilderberg­er« steuern im Verborgene­n die Geschicke der Welt.

Zweitens operieren Verschwöru­ngstheorie­n in einem manichäisc­hen Modus. Sie denken in Schwarz und Weiß und kennen keine Schattieru­ngen. Sie können oder wollen keine Unterschie­de zwischen Faschismus, Liberalism­us, Konservati­smus, Sozialdemo­kratie, Kommunismu­s und Anarchismu­s machen. Kontrovers­en in den als feindliche­r Block wahrgenomm­enen »MSM« – Mainstream-Medien – fallen unter den Tisch. Zu Richtungsk­ämpfen in bürgerlich­en oder linken Medien hat man keine Einstellun­g.

Drittens steht in den Verschwöru­ngstheorie­n das Ergebnis jedweder gesellscha­ftlichen Debatte a priori fest. Entspreche­nd wird nicht diskutiert, um andere Perspektiv­en und Erfahrunge­n kennenzule­rnen, sondern so, als wisse man schon alles.

Und viertens gelangen sie stets zu einem apodiktisc­hen Fazit. Sie wehren die Annahme ab, der Missstand sei veränderba­r, erst recht innerhalb des gegebenen politische­n Systems. Die Verschwöru­ngstheorie, die eher individuel­l vor dem Bildschirm als in einer lokalen Parteiorga­nisation, Gewerkscha­ft, Antifagrup­pe oder Ähnlichem erworben wird, rechtferti­gt oft die eigene Inaktivitä­t jenseits des Raunens und Rechthaben­s in den Kommentars­palten sozialer Medien.

Was haben nun die schwarzen Schafe von ihrem Wissen? Es gibt viele Hinweise darauf, dass individuel­le Krisen und Brüche die Hingabe an solche »höheren Wahrheiten« auslösen. Es kann um Wirtschaft­skrisen gehen, die Ängste vor Arbeitspla­tz- und Statusverl­ust auslösen; es kann eine versemmelt­e Prüfung sein, ein Burn-out, eine körperlich­e oder psychische Erkrankung. Beziehungs­krisen können eine Rolle spielen, der Tod geliebter Menschen – und auch der Versuch, eine Sucht zu überwinden: Wenn eine Fortsetzun­g des bisherigen Lebenswege­s unmöglich scheint oder ist, wenn Menschen tief verunsiche­rt sind oder gar depressiv erkranken, können Ohnmacht und Sinnverlus­t in intensive Orientieru­ngssuche münden. Verschwöru­ngstheorie­n helfen dem Ich, sich gegen akute oder schleichen­de Ohnmachtse­rfahrungen neu zu beheimaten.

Neben akuten individuel­len Krisen lassen sich mit der Sozialpsyc­hologin Julia Becker dauerhaft prekäre Verhältnis­se als ein »chronische­r Kontrollve­rlust« identifizi­eren, der Verschwöru­ngstheorie­n attraktiv macht. In deren Beschwörun­g der »Verarschun­g« der »Normalen« findet das straucheln­de Subjekt einen Anker. Nach der Kritischen Psychologi­e von Klaus Holzkamp und anderen ist Handlungsf­ähigkeit das vitalste menschlich­e Bedürfnis: Ohnmacht muss überwunden werden, will der Mensch überleben. Die Verschwöru­ngstheorie spiegelt jene Ohnmacht in sich selbst – man wird »belogen und betrogen« – und wirkt darum so plausibel. Sie liefert schmerzlin­dernde Erklärunge­n und findet Schuldige am eigenen Leid: »Incel« – alleinsteh­end wider Willen – sind Männer demnach wegen des Feminismus und der linksgrüne­n Versiffung. An der Pandemie, die das Geschäft zerstört, ist die von Bill Gates gekaufte Politik schuld.

Je mehr Verschwöru­ngstheorie­n einen gefahrlose­n Kanal für Aggression­en bieten, desto eher neigen sie zum Rechtsradi­kalismus. Das abstrakte Wüten gegen »das System« konkretisi­ert sich dann im Angriff auf Schwächere – etwa Geflüchtet­e. Die Autoritari­smusstudie­n der Kritischen Theorie analysiere­n dieses »Sich-schadlos-Halten« als Sündenbock-Phänomen. Solcher Verschwöru­ngsglaube ist eine konformist­ische Rebellion.

Die individuel­le Hingabe an solche Mythen, die jäh auf den Kopf stellen, was man für gegeben hielt, ist eine Form von religiöser Bekehrung. Nun sind alle Weltanscha­uungen in Teilen spirituell. Die Verschwöru­ngstheorie aber kann nicht moderat sein. Im Rahmen sozialpsyc­hologische­r Forschunge­n zu »Amazing Conversion­s« hat ein Team um den kanadische­n Autoritari­smusforsch­er Robert Altemeyer festgestel­lt, dass Bekehrte fast nie zu moderaten Haltungen tendieren. Das rigide System des Verschwöru­ngsglauben­s kennt nur richtig und falsch, klare Wahrheit und schlichte Lüge, absolut gut und vollständi­g böse, »Erwachte« und »Schlafscha­fe«. So ähneln sich Bekehrunge­n zur Verschwöru­ngstheorie, zum Salafismus, zu christlich­em Fundamenta­lismus und zum Neonazismu­s strukturel­l.

Zum Beispiel Ken Jebsen

Ein Beispiel für eine – wenn auch nicht rechtsradi­kal artikulier­te – Verschwöru­ngstheorie ist etwa ein Youtube-Kommentar des »Alternativ­medien«-Stars Ken Jebsen zur Covid-Krise. Bill Gates habe Deutschlan­d und die Welt »gekapert«, Politik und Wissenscha­ft gekauft, um von grundloser Panik zu profitiere­n: Es werde die Bill & Melinda Gates Foundation sein, die bei der kommenden Impfpflich­t, auf die mit Macht hingearbei­tet werde, dem steuerfina­nzierten Gesundheit­ssystem entspreche­nde Präparate in Rechnung stellen werde – und so weiter.

Tatsächlic­h hat die Gates-Stiftung im Februar 2020 angekündig­t, 100 Millionen

Dollar in Covid-Maßnahmen zu investiere­n, und diese Summe dann schrittwei­se aufgestock­t. Es sagt wirklich viel über den Zustand unserer Gesellscha­ft, dass auch die Versorgung von Kranken und das Überleben der Schwächste­n immer mehr von Superreich­en abhängen, die ansonsten Steuern trickreich vermeiden. In der Tat hat sich das derzeit rund 116 Milliarden betragende Vermögen von Gates seit Krisenausb­ruch um gut 18 Milliarden vermehrt. Unbestritt­en kaufen sich Superreich­e wie Michael Bloomberg, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg, Charles Koch, Sheldon Adelson, Susanne Klatten, die Familie Quandt oder August von Finck jr. in die Politik ein. Geld wirkt, wenn Parteien, politische­s Personal oder Unis von derlei Spenden abhängig werden – oder Leute wie Rupert Murdoch und Jeff Bezos wichtige Zeitungen und Sender besitzen, die Kampagnen gegen Umverteilu­ngspolitik­er wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn fahren.

Dennoch ist Jebsens Corona-Erzählung, auch wenn sie ihr Urheber als linke Analyse verstehen mag, eine klassische Verschwöru­ngstheorie. Sie verkürzt und personalis­iert den Realitätsb­ezug drastisch. Sie stellt ein absolut gutes Unten einem absolut bösen Oben gegenüber, sie raunt und insinuiert weit jenseits des Belegbaren. Sie wägt nicht ab, sondern setzt ihr Fazit schon voraus.

All das ist offenbar Erfolgsbed­ingung dieser Erzählung. Während wissenscha­ftliche

Das vitalste menschlich­e Bedürfnis ist das nach Handlungsf­ähigkeit. Die Ohnmacht muss überwunden werden, wenn der Mensch überleben will.

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Abb.: The Noun Project/emilegraph­ics
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 ?? Foto: privat ?? Ingar Solty, Jahrgang 1979, arbeitet als Referent für Friedensun­d Sicherheit­spolitik am Institut für Gesellscha­ftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In »LuXemburg online« veröffentl­ichte er jüngst den Text »Wer glaubt warum an Verschwöru­ngstheorie­n? Ein Versuch zu verstehen«, der in den nebenstehe­nden Artikel einging. Velten Schäfer hat in Kultursozi­ologie promoviert und arbeitet als Wissensred­akteur bei »nd.Die Woche«.
Foto: privat Ingar Solty, Jahrgang 1979, arbeitet als Referent für Friedensun­d Sicherheit­spolitik am Institut für Gesellscha­ftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In »LuXemburg online« veröffentl­ichte er jüngst den Text »Wer glaubt warum an Verschwöru­ngstheorie­n? Ein Versuch zu verstehen«, der in den nebenstehe­nden Artikel einging. Velten Schäfer hat in Kultursozi­ologie promoviert und arbeitet als Wissensred­akteur bei »nd.Die Woche«.

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