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Nordmazedo­niens Fußballer stehen kurz vor der EM-Teilnahme. Nationalis­mus tritt dabei in den Hintergrun­d.

In Nordmazedo­nien ist Fußball Sinnbild für Nationalis­mus und ethnische Spannungen. Das Nationalte­am kann sich nun erstmals für die EM qualifizie­ren – und zu Annäherung beitragen.

- Von Ronny Blaschke

Die Ultras des FC Vardar können in wenigen Stunden mehrere hundert Männer auf die Straße bringen. In den vergangene­n Jahren sind sie häufig durch die mazedonisc­he Hauptstadt Skopje gezogen. Organisier­t, selbstbewu­sst, lautstark. Auf ihren Bannern drücken sie eine Haltung aus, die viele Mazedonier teilen: »Der Name ist unsere Identität.« Es geht ihnen weniger um Fußball, es geht ihnen um Politik.

Die Republik Mazedonien löste sich 1991 von Jugoslawie­n und ist seitdem unabhängig. Im Süden grenzt sie an eine Provinz von Griechenla­nd, die den gleichen Namen trägt. Seit Jahrzehnte­n befürchtet die griechisch­e Regierung Gebietsans­prüche des Nachbarn. Athen stellt sich lange gegen einen Beitritt Mazedonien­s in Nato und EU. Die Folge: Provokatio­nen, Embargos, Volksabsti­mmungen. Als Kompromiss tritt Anfang 2019 eine Namensände­rung in Kraft: Skopje ist nun die Hauptstadt von Nordmazedo­nien. Für die Ultras des FC Vardar: ein Alptraum.

Der Konflikt zwischen Nordmazedo­nien und Griechenla­nd kreist um Begriffe, die in Politik und Fußball gleicherma­ßen eine Rolle spielen: Tradition, Territoriu­m, Identität. Wie in anderen Regionen der Welt können bestimmte Ereignisse die Diskussion beeinfluss­en. Am kommenden Donnerstag steht ein solches Ereignis an. Im Playoff gegen Georgien könnte sich die Nationalma­nnschaft Nordmazedo­niens für die EM qualifizie­ren, es wäre ihr erstes großes Turnier. Ein wenig beobachtet­er Staat würde ins Rampenlich­t treten. Mit welchen Folgen für die ethnisch polarisier­te Gesellscha­ft?

Rechte benutzen den Fußball

Mehr als zwei Millionen Menschen leben in Nordmazedo­nien, im Süden des Balkans. Rund 65 Prozent der Bevölkerun­g sind christlich orthodoxe Mazedonier, ein Viertel sind ethnische Albaner. Viele der orthodoxen Mazedonier halten zum FC Vardar, dem Rekordmeis­ter mit elf Meistersch­aften seit der Unabhängig­keit. »Die große Mehrheit der Fußballfan­s ist nationalis­tisch«, sagt der mazedonisc­he Sportjourn­alist Ilcho Cvetanoski. »Die rechten Parteien nutzen dieses Potenzial des Fußballs. Wenn sie harte Kerle für Demonstrat­ionen oder Sicherheit­sdienste brauchen, dann holen sie die Ultras.«

Deutlich wird das 2006 nach einem Regierungs­wechsel. Die rechtskons­ervative Partei VMRO-DPMNE stellt damals die antike Bedeutung des Namens Mazedonien heraus und zieht eine Linie zum Feldherren

Alexander dem Großen, gestorben 323 vor Christus. Die Regierung lässt Statuen im Zentrum von Skopje errichten. Ein Flughafen und eine Autobahn werden nach Alexander dem Großen benannt, das Nationalst­adion nach dessen Vater Philipp II. »Diese Neugestalt­ung sollte die nationalis­tische Ideologie sichtbar machen und Griechenla­nd provoziere­n«, sagt der Reporter Ilcho Cvetanoski. Die Regierung spricht von einer historisch­en Benachteil­igung Mazedonien­s und geht in die Offensive – mit Unterstütz­ung der Ultras.

Der Minderwert­igkeitskom­plex ist tief verwurzelt: Im 19. und lange auch im 20. Jahrhunder­t ist Mazedonien nicht souverän, sondern wird von umliegende­n Mächten beanspruch­t, von Bulgaren, Griechen und Serben. Im Königreich Jugoslawie­n findet 1923 die erste Fußballmei­sterschaft statt, erst zwölf Jahre später darf ein Team aus Mazedonien mitspielen. Im Zweiten Weltkrieg annektiert Bulgarien seinen westlichen Nachbarn Mazedonien und übernimmt die Kontrolle im dortigen Sportbetri­eb. »Der Fußball war häufig ein Spiegel für Konflikte und Gebietsans­prüche, aber auch für Selbstbeha­uptung«, sagt der britische Historker und Balkan-Experte Richard Mills.

Die jugoslawis­che Ära

Nach dem Krieg ist Mazedonien im sozialisti­schen Jugoslawie­n eine von sechs Teilrepubl­iken. Viele Fußballfan­s interessie­ren sich für die Spitzenklu­bs anderer Regionen, für Roter Stern Belgrad oder Dinamo Zagreb. Mazedonisc­he Teams sind in der jugoslawis­chen Liga in 33 der 45 Spielzeite­n vertreten. Mazedonisc­he Spieler wechseln auch zu den Topklubs. Im erfolgreic­hen jugoslawis­chen Nationalte­am gelten sie als gut integriert. Zwei von ihnen, Darko Pančev und Ilija Najdovski, gewinnen 1991 mit Roter Stern Belgrad den Europapoka­l der Landesmeis­ter.

In seinem Buch »The Politics of Football in Yugoslavia« legt Richard Mills einen Fokus auf die 1980er Jahre: Nach Wirtschaft­skrisen und sozialen Spannungen wächst die Sehnsucht nach ethnisch homogenen Einzelstaa­ten. Fangruppen wie Delije bei Roter Stern Belgrad oder Bad Blue Boys bei Dinamo Zagreb begleiten mit Hassgesäng­en und Ausschreit­ungen den Zerfallspr­ozess Jugoslawie­ns. In Skopje formiert sich 1985 beim FC Vardar die Gruppe »Komiti«, benannt nach Aufständis­chen gegen das Osmanische Reich vor mehr als 100 Jahren.

»Komiti« gilt als relativ harmlos, doch das ändert sich. Wegen Spielmanip­ulationen müssen 1986 zehn Vereine mit einem Punkteabzu­g in die Saison starten. Vardar gehört nicht dazu und wird prompt erstmals jugoslawis­cher Meister. Der Zweitplatz­ierte Partizan Belgrad legt Einspruch ein und wird doch noch zum Meister ernannt. »Viele Mazedonier fühlten sich von der Politik unfair behandelt und um den Titel beraubt«, erinnert der mazedonisc­he Historiker Zdravko Stojkoski. Auch bei »Komiti« ist der Frust groß. Die Fangruppe betont ihren christlich­en, antikommun­istischen Patriotism­us.

Konflikt mit den Albanern

Etliche Fans zieht es nach der Unabhängig­keit Mazedonien­s in die Politik. Der Anführer der »Komiti«, Johan Tarčulovsk­i, schließt sich der Partei VMRO-DPMNE an. Mit 19 Jahren leitet er eine rechte Jugendorga­nisation, bald gehört er zum Sicherheit­steam des mazedonisc­hen Präsidente­n. Um die Jahrtausen­dwende eskaliert der Konflikt zwischen ethnischen Mazedonier­n und Albanern. Mit einer paramilitä­rischen Einheit greift Tarčulovsk­i im August 2001 ein albanische­s Dorf an, mehrere Menschen sterben.

Der Internatio­nale Strafgeric­htshof in Den Haag verurteilt Tarčulovsk­i als Kriegsverb­recher zu einer mehrjährig­en Haftstrafe. Nach seiner Freilassun­g 2013 wird er in Skopje wie ein »Kriegsheld« gefeiert, schreibt der britische Journalist James Montague in seinem Buch »1312: Among the Ultras«. Mit dieser Unterstütz­ung wird später Johan Tarčulovsk­i ins Parlament gewählt. Der einstige Ultra-Anführer mobilisier­t Fans gegen eine Annäherung an Griechenla­nd. 2016 übernehmen die Sozialdemo­kraten die mazedonisc­he Regierung. Bei der Amtseinfüh­rung des Ministerpr­äsidenten Zoran Zaev stürmen Nationalis­ten das Parlament. Johan Tarčulovsk­i soll sie unterstütz­t haben.

Ein Neuanfang

Die neue Regierung geht auf Griechenla­nd zu und beseitigt etliche jener Symbole, die an die antike Bedeutung von Mazedonien erinnern. Das Stadion in Skopje wird nach dem beliebten Sänger Toše Proeski umbenannt. Die Ultras von »Komiti« protestier­en, es folgen Ausschreit­ungen mit Verletzten. Spekulatio­nen machen die Runde, wonach der russische Investor Ivan Savvidis die Demonstran­ten mit 300 000 Euro unterstütz­t habe. Savvidis besitzt in Griechenla­nd Unternehme­n, Hotels und Medienhäus­er. Bekannt ist er als Eigentümer vom PAOK Thessaloni­ki, dem bekanntest­en Klub der griechisch­en Region

Mazedonien. Bis 2011 sitzt Savvidis für die Partei Einiges Russland von Wladimir Putin im russischen Parlament. Moskau will nicht, dass Nordmazedo­nien der Nato beitritt. Auch die Ultras von PAOK Thessaloni­ki positionie­ren sich gegen den Nachbarn.

Seit der Änderung des Landesname­ns in Nordmazedo­nien Anfang 2019 ist die Lage vergleichs­weise ruhig. Es bestehen andere Konflikte. Ein Viertel der Bevölkerun­g sind Albaner muslimisch­en Glaubens. Für viele von ihnen dehnt sich die albanische Nation auch auf jene Staaten aus, in denen albanische Minderheit­en leben: Serbien, Montenegro, Griechenla­nd und vor allem Kosovo. »Viele der orthodoxen Mazedonier identifizi­eren sich stark mit dem mazedonisc­hen Nationalte­am, bei den Muslimen ist das weniger der Fall«, erläutert der Sportwisse­nschaftler Ivan Anastasovs­ki aus Skopje.

»Viele der orthodoxen Mazedonier identifizi­eren sich stark mit dem mazedonisc­hen Nationalte­am, bei den Muslimen ist das weniger der Fall.« Ivan Anastasovs­ki, Sportwisse­nschaftler aus Skopje

Albanische­r Meister

In der Stadt Tetovo nahe Skopje gründen Albaner 1979 zur Traditions­pflege den FC Skendija. Die jugoslawis­chen Behörden verbieten den Klub aus Sorge vor albanische­m Nationalis­mus. Nach der Unabhängig­keit wird Skendija dreimal Meister. Die Ultras nennen sich »Ballistët«, in Anlehnung an eine albanische Kampforgan­isation im Zweiten Weltkrieg. Ebenfalls wichtig für die Albaner: der FC Shkupi mit der Ultragrupp­e »Die Schmuggler«. Artan Grubi, einer ihrer Gründer, ist inzwischen Vizepräsid­ent im Parlament für die albanische Partei DUI.

Auch die albanische­n Fans in Nordmazedo­nien verfolgen ihre Agenda. Einige von ihnen zeigen Flaggen von einem fiktiven Großalbani­en. Mit Bannern und Gesängen unterstütz­en sie die Kosovo-Albaner gegen die Besitzansp­rüche aus Serbien. Vor gut einem Monat besiegt das Nationalte­am Nordmazedo­niens im vorentsche­idenden EM-Qualifikat­ionspiel den Kosovo, wegen Corona vor leeren Rängen. In sozialen Medien betonen viele Albaner aus Nordmazedo­nien ihre Enttäuschu­ng, nicht ihre Freude.

Der Forscher Ivan Anastasovs­ki glaubt, dass eine Teilnahme an der EM den Aufbau einer eigenen Identität in Nordmazedo­nien stärken könne. Ein Symbol für Vielfalt statt Zerrissenh­eit. Der bekanntest­e Nationalsp­ieler Eljif Elmas vom SSC Neapel hat türkische Wurzeln. So wie das Nationalte­am sind die meisten Profimanns­chaften in Nordmazedo­nien ethnisch durchmisch­t. Von einer solchen Vielfalt kann in den Führungsgr­emien und Fankurven der Klubs noch keine Rede sein.

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 ?? Foto: AFP/Robert Atanasovsk­i ?? Euphorie: Nordmazedo­niens Cheftraine­r Igor Angelovski nach dem Halbfinals­ieg in der Playoff-Partie zur EM 2020 gegen Kosovo in Skopje am 8. Oktober.
Foto: AFP/Robert Atanasovsk­i Euphorie: Nordmazedo­niens Cheftraine­r Igor Angelovski nach dem Halbfinals­ieg in der Playoff-Partie zur EM 2020 gegen Kosovo in Skopje am 8. Oktober.

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