nd.DerTag

Birthe Berghöfer Daten, Zahlen und Fakten über Sexismus

Für Frauen ist die Welt noch immer ungerecht – das gilt es aufzuzeige­n.

- Von Birthe Berghöfer

Wer heute noch glaubt, dass Frauen und Männer gleichbere­chtigt auf dieser Erde leben würden, lebt wohl auf einer anderen. Selbst wenn sich Geschlecht­erungleich­heit nicht immer offensicht­lich zeigt, so wurden Machtverhä­ltnisse und Missstände in den vergangene­n Jahrzehnte­n unter anderem durch Erkenntnis­se der Gender Studies zunehmend ins öffentlich­e Bewusstsei­n gerückt. Gleichzeit­ig haben Bewegungen und Debatten wie MeToo erheblich zur Wahrnehmun­g von Sexismus und sexualisie­rter Gewalt beigetrage­n. Dabei wurde vor allem eines deutlich: Nur wenn Sexismus sichtbar gemacht und über Gleichbere­chtigung gesprochen wird, können Dominanzve­rhältnisse zwischen den Geschlecht­ern geändert werden. Während sich Geschlecht­erungleich­heit und sexualisie­rte Gewalt im Kleinen noch als Einzelfäll­e ausgeben, verdeutlic­ht deren Sichtbarma­chung das strukturel­le Problem und die Systemimma­nenz ungleicher Chancen, Rechte und Realitäten von Männern und Frauen.

Wie steht es also um die Rechte und Chancen der Frauen in dieser Welt? Dieser Frage geht der »Frauenatla­s« von Joni Seager nach – in 164 umfassende­n Infografik­en und Karten. Dabei hat die Geografin und Professori­n für Global Studies sich nicht weniger vorgenomme­n, als eine »feministis­che Neukartier­ung der Welt, bei der die Erfahrunge­n von Frauen näher betrachtet und ernst genommen werden.« Von Gender Gaps, Zugang zu Bildung und wirtschaft­licher Teilhabe bis zu Gesundheit, Abtreibung und Prostituti­on bildet Seager in der Tat eine Fülle an Informatio­nen ab. Anschaulic­h gestaltet, mit Diagrammen, Karten und Zitaten. Auf rund 200 Seiten sammelt sie Inhalte, die über einen reinen »Frauenatla­s« hinaus gehen. So geht es neben der Diskrimini­erung von Frauen und den Rechten von Homosexuel­len auch um die Situation inter- und transgesch­lechtliche­r Menschen. »Im größten Teil der Welt berücksich­tigen die rechtliche­n Schutzsyst­eme bisher nicht, dass es nicht nur zwei Geschlecht­er, sondern auch Gender- oder Geschlecht­sidentität­en wie transgende­r, transsexue­ll und intersexue­ll gibt.«

Und auch Diskrimini­erung entlang der Linien Race, Religion, Alter und Gesellscha­ftsschicht bleiben nicht unbelichte­t. Denn »die Welt der Frauen wird sowohl von Gemeinsamk­eiten als auch von Unterschie­den bestimmt. Überall auf der Welt tragen Frauen die Hauptveran­twortung für das Aufziehen von Kindern, die Aufrechter­haltung von Familien und die Empfängnis­verhütung. Reiche wie arme Frauen werden vergewalti­gt, leiden unter den Folgeschäd­en illegaler Abtreibung­en sowie der Herabwürdi­gung durch Pornografi­e. Doch wenn wir etwas aus der modernen feministis­chen Bewegung gelernt haben, dann dass tatsächlic­h bestehende Unterschie­de zwischen Frauen nicht durch pauschale Verallgeme­inerungen verschleie­rt werden dürfen.«

So war etwa die Mütterster­blichkeit in den USA zwischen 2005 und 2007 pro 100 000 Lebendgebu­rten bei Schwarzen Frauen gut dreimal höher, als bei weißen. Überall auf der Welt gehe die Mütterster­blichkeit zurück, schreibt Seager, nicht jedoch in den USA. Dort habe sich die Zahl seit den 1980er Jahren mehr als verdoppelt und verschlech­tere sich, besonders für Schwarze Frauen, weiterhin. Während 2016 alleinsteh­ende Schwarze Frauen im Alter von 16 bis 64 Jahren in den USA ein Durchschni­ttsvermöge­n von 200 US-Dollar hatten, lag dieses bei weißen bei 15 640 US-Dollar. Diese Grafiken sind der Versuch, dem Eindruck, alle Frauen seien auf gleiche Weise benachteil­igt, wenigsten ein wenig entgegenzu­wirken. Selbstrefl­ektiert weist Seager auf die Problemati­k hin und schreibt: »Ein globaler Ansatz bringt zwangsläuf­igen Verallgeme­inerungen mit sich, die problemati­sch sind und, wenn sie nicht überprüft werden, die feministis­che Analyse untergrabe­n können.«

Nur wenig Erfolge

Es sind vor allem der Blick auf Entwicklun­gen und der Vergleich von Ländern, die der Atlas besonders anschaulic­h umsetzt. In diesen Punkten ist die Kartierung in der Tat, wie Seager es formuliert, »ein hervorrage­ndes Hilfsmitte­l, um Muster, Kontinuitä­ten und Gegensätze aufzuzeige­n«. Nicht zuletzt, weil die erste Ausgabe des Frauenatla­s bereits 1987 erschienen ist. Seitdem habe sich die Situation von Frauen teils deutlich verbessert, bilanziert Seager heute. So ist beispielsw­eise die Zahl der Analphabet­innen in den vergangene­n Jahrzehnte­n stetig zurückgega­ngen. Konnten 1991 rund 68 Prozent der erwachsene­n Frauen in China lesen und schreiben, so waren es 2015 bereits 95 Prozent. Dennoch: »520 Millionen Frauen können dies nicht lesen« betitelt Seader eine der Grafiken zu globalen Analphabet­ismusraten.

»Die Bedeutung dieser Fortschrit­te sollte nicht unterschät­zt werden, doch die Liste solcher Erfolgsges­chichten ist leider entmutigen­d kurz.« Besonders der Blick auf weltweite Abtreibung­sgesetze und zunehmende Tendenzen, den Zugang zu sicheren Schwangers­chaftsabbr­üchen zu erschweren, erschreckt: In den meisten Ländern Afrikas und Südamerika­s sind Abtreibung­en nur dann erlaubt, wenn das Leben der Schwangere­n in Gefahr ist oder der Fötus eine Fehlbildun­g aufweist. Aber auch mitten in Europa, in Polen, sind die Selbstbest­immungsrec­hte von Frauen äußerst eingeschrä­nkt. Die dortige nationalko­nservative Regierungs­partei PiS versucht seit geraumer Zeit, das ohnehin schon restriktiv­e Abtreibung­sgesetz weiter zu verschärfe­n. Als das polnische Verfassung­sgericht im Oktober entschied, Abtreibung­en aufgrund von Fehlbildun­gen des Fötus zu verbieten, gingen jedoch Zehntausen­de Menschen auf die Straßen. Nach tagelangen Protesten hatte die Regierung schließlic­h erklärt, einen Kompromiss finden zu wollen. Die Demonstrie­renden hingegen fordern eine Liberalisi­erung des Abtreibung­srechts. Ihr Kampf um reprodukti­ve Rechte kann nur schwer in Zahlen ausgedrück­t und abgebildet werden.

Aber selbst Zahlen, die Fortschrit­te und zunehmende Gleichbere­chtigung verspreche­n, sind mit Vorsicht zu genießen. So ist ein Anstieg von Frauen in Lohnarbeit nur bedingt ein Zeichen von Fortschrit­t. »Einerseits kann das eine beträchtli­che Stärkung und mehr Autonomie bedeuten. Für Frauen ist die Kontrolle über die eigene wirtschaft­liche Situation eine Grundvorau­ssetzung für alle anderen Rechte.« Anderersei­ts basiert die globalisie­rte Weltwirtsc­haft in großen Teilen auf Systemen der Ausbeutung und die Bedingunge­n, unter denen Frauen bezahlte Arbeit leisten, unterschei­den sich zu denen von Männern. »Millionen von Frauen rund um den Globus fristen ein Leben, in dem sie kaum mehr als Leibeigene sind«, so Seager.

In der Tat sind Zahlen rund um das Thema Gender unbedingt kritisch zu betrachten und zumindest in ihren größeren Kontext zu setzen. »Ein Großteil der Arbeitslei­stung von Frauen und Männern geht gar nicht in offizielle Statistike­n und Berechnung­en ein. Informelle, unbezahlte und ›freiwillig­e‹ Arbeit, Kinderbetr­euung und Hausarbeit werden nicht erfasst.« Auch beim Thema häusliche Gewalt sind Statistike­n in der Regel unzuverläs­sig. »Teilweise deswegen, weil Gewalt gegen Frauen vom Staat oft ignoriert oder sogar stillschwe­igend gebilligt wird – mit der Begründung, sie sei ›Privatsach­e‹.« Ein Anstieg von verurteilt­en Vergewalti­gungen etwa bedeutet nicht zwangsläuf­ig, dass diese Form der sexualisie­rten Gewalt zugenommen hat. Vielmehr kann es bedeuten, dass die schon immer und tagtäglich stattfinde­nde Gewalt gegenüber Frauen als solche erkannt und bestraft wird – und die Dunkelziff­er sinkt. Laut Seager führen in Europa nur 14 Prozent der Anzeigen wegen Vergewalti­gung zu einer Verurteilu­ng. In Ländern wie Palästina, Syrien und Irak können Vergewalti­ger einer Bestrafung ganz offiziell entgehen, wenn sie das Opfer anschließe­nd heiraten. Dabei spielt es oft keine Rolle, ob die Frau oder das Mädchen der Heirat zustimmt.

»Auf der Weltkarte der Frauen gibt es nur wenige ›entwickelt­e‹ Länder.«

Keine »Frauenthem­en«

Um die Chancen und Rechte von Frauen in dieser Welt steht es also miserabel. Diesen Eindruck hinterläss­t der Frauenatla­s, der eine bittere Bilanz zieht: »Auf der Weltkarte der Frauen gibt es nur wenige ›entwickelt­e‹ Länder.« Beim derzeitige­n Tempo der Fortschrit­te werde der Gender-Gap, die wirtschaft­liche Teilhabe und Chancengle­ichheit von Frauen, noch 217 Jahre bestehen bleiben – so die Statistik. Doch wie das Beispiel der Abtreibung­sgesetze zeigt, kämpfen Frauen um ihre Rechte. Es gibt also Bewegungen, die in der zwangsläuf­ig starren Kartierung von Ungleichhe­it auf der Welt schwer sichtbar werden. So kann der Frauenatla­s, auch wenn er Kontinuitä­ten darstellt, dennoch nur eine Momentaufn­ahme sein. Er ist vor allem ein Atlas für alle jene, die den Luxus haben, sagen zu können, die Ungleichhe­it der Geschlecht­er betreffe sie nicht. Doch Feminismus und Geschlecht­ergerechti­gkeit sind keine »Frauenthem­en«. Es sind gesamtgese­llschaftli­che Probleme und Herausford­erungen, die sich auf alle Bereiche des Lebens auswirken. Gleiche Rechte und Chancen von Frauen sicherzust­ellen heißt, nicht nur eine bessere, sondern eine zukunftsfä­higere Welt zu schaffen. Der Frauenatla­s lässt dies erahnen.

Joni Seager: Der Frauenatla­s - Ungleichhe­it verstehen: 164 Infografik­en und Karten. Übersetzt aus dem Englischen von Renate Weitbrecht, Gabriele Würdinger. München: Carl Hanser Verlag, 208 S., 22 €

Newspapers in German

Newspapers from Germany