Mira Landwehr Zwei neue Hefte aus dem Maro-Verlag
»Ich kann so nicht weitermachen«, schreit es nachts in einem Innenhof im Wedding. Eine Frau klettert auf das Fensterbrett. »Ich hasse dich. Ich werde dich verlassen.« Die Frau löst eine Hand vom Fensterrahmen und will gestikulieren, doch dann verliert sie den Halt, schreit auf und stürzt hinab. Wenig später kommt ein Mann zum Fenster gelaufen. Er gerät in Panik, als er erkennt, was passiert ist, und klettert ebenfalls auf den Fenstersims. Er schreit, ist völlig außer sich. Im Hausflur und im Hof geht das Licht an. Eine Tür wird aufgerissen. Hausbewohner stürzen in den Hof. Der Mann im Fenster verliert die Nerven, stürzt herunter und bleibt wie die Frau tot liegen.
Als Lea mir am nächsten Tag davon berichtet, ist mein erster und gänzlich unmoralischer Gedanke – da wird eine Wohnung frei. Von einer rationalen Ebene betrachtet, ist der Gedanke richtig. Ich sage es mal so: Wenn es in
Berlin genügend Wohnungen gäbe, dann käme ich nicht zu einer solchen Schlussfolgerung. Lea ist vom Schicksal des Pärchens ergriffen, aber auf andere Weise, als ich gedacht hätte. »Die haben immer Lärm gemacht«, berichtet sie mir. »Haben bis in die Nacht gesoffen und sich gestritten. Aber mit
Ohropax war es auszuhalten. Es ist traurig, dass sie gestorben sind.«
»Ja, das ist es«, pflichte ich bei.
Lea atmet vernehmlich. »Blöd nur, dass ich das anders meine. Also schon so, wie ich es gesagt habe, aber auch anders.«
Lea steht auf, wendet sich zum Schrank und zieht einen Ordner heraus. »Für die Mieter im Haus waren die einfach nur lästig. Für uns Eigentümer auch, aber ein Stück weit waren die mit ihrem asozialen Verhalten auch nützlich.«
Sie schlägt eine Stelle auf und reicht mir den Ordner. Ich lese: »Ihr Quartier wird Ende 2021 anhand von fünf Gesichtspunkten analysiert. Geprüft wird, ob eine Verbesserung der Wohnlage eingetreten ist. Einer der Faktoren ist der soziale Zusammenhalt zwischen den Nachbarschaften. Wenn sich die Qualität des Quartiers verbessert, erhöht sich der Kaufpreis für Besitzer von Eigentumswohnungen nachträglich um bis zu 15 000 €.«
»Das ist natürlich blöd«, sage ich zunächst, und Lea stimmt mir nickend zu. Ich überlege, was zu tun ist. »Der eine aus der WG nebenan, was ist mit dem? Die WG wollte den doch rausschmeißen, aber er weigert sich. Wollten die Mitbewohner nicht vor Gericht ziehen? Das könntest du doch geltend machen. Für mich klingt das nicht nach einer Verbesserung der Wohnlage.« »Der ist vor einer Woche ausgezogen«, sagt Lea.
»Tja, so ist das halt. Innerhalb einer Woche haben sich zwei Probleme erledigt und ein neues erzeugt.« Ich klappe den Ordner zu und reiche ihn an Lea.
»Bis Ende 2021 ist doch noch Zeit«, versuche ich Hoffnung zu wecken. Was mir noch in den Sinn kommt, ist für die Situation angebracht, aber sagen würde man so etwas nie: »Es kommen bestimmt wieder schlechtere Zeiten.«
Sonntagmorgen