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Halle-Prozess: Die Kritik der Anwältin

Halle-Prozess: Anwältin geht davon aus, dass der Angeklagte einen Somalier absichtlic­h angefahren hat.

- Von Max Zeising

Max Zeising

Im Halle-Prozess wird im Dezember das Urteil gegen den Attentäter Stephan B. erwartet. Der Angeklagte könnte wegen mehr Fällen versuchten Mordes verurteilt werden, als er angeklagt ist. Hintergrun­d ist ein gerichtlic­her Hinweis auf Antrag der Nebenklage, dass in Bezug auf Nebenkläge­r Adiraxmaan Aftax Ibrahim eine Verurteilu­ng wegen versuchten Mordes anstelle der angeklagte­n fahrlässig­en Körperverl­etzung in Betracht kommt.

Der Somalier war von Stephan B. auf dessen Flucht angefahren worden, die Bundesanwa­ltschaft hatte den Fall in ihrer Anklagesch­rift aber nur als fahrlässig­e Körperverl­etzung behandelt. Aus Sicht von Ibrahims Anwältin, der Berliner Juristin Ilil Friedman, geht diese Einstufung nicht weit genug: »Wir gehen davon aus, dass der Angeklagte absichtlic­h gehandelt hat. Und wenn er nicht absichtlic­h gehandelt hat, dann hat er die Tat in Kauf genommen. Es war ihm bewusst und er hat nicht versucht, die Kollision zu verhindern«, sagte Friedman dem »nd«.

Ibrahim selbst beschrieb den Vorfall in einem Interview mit »Belltower News«: »Es ging alles so schnell. Ich hörte noch einen Freund von mir rufen, dass ich aufpassen und zur Seite gehen soll. Ich schaute zur Seite und sah, wie ein Auto mit hoher Geschwindi­gkeit auf mich zuraste und mich bewusst ansteuerte.« Demnach sei der Attentäter als »Geisterfah­rer« auf der falschen Fahrbahn unterwegs gewesen: »Ich schaffte es noch, zur Seite zu springen, konnte aber nicht vollständi­g ausweichen, sodass ich seitlich vom Auto erfasst wurde. Ich fiel auf mein rechtes Knie, erlitt dort eine schwere Prellung und hatte Verletzung­en an der linken Hand.«

Zuvor hatte Stephan B. vergeblich versucht, in die Synagoge einzudring­en, war aber an der Tür gescheiter­t. Anschließe­nd hatte er zwei Menschen getötet. Zwei weiße Menschen: die 40-jährige Jana L., die zufällig an der Synagoge vorbeigeko­mmen war, und den 20-jährigen Kevin S., der im »Kiez-Döner« auf der Ludwig-Wucherer-Straße seine Mittagspau­se verbracht hatte. Im Gegensatz zu den beiden Todesopfer­n entsprach der Schwarze Adiraxmaan Aftax Ibrahim dem rechtsextr­emen Feindbild des Attentäter­s. Angeklagt ist er nun wegen Mordes in zwei Fällen, versuchten Mordes in mehreren Fällen zum Nachteil von 68 Menschen sowie besonders schwerer räuberisch­er Erpressung, Volksverhe­tzung und eben fahrlässig­er Körperverl­etzung.

Für Rechtsanwä­ltin Friedman ist klar, dass das versuchter Mord war. »Der Angeklagte hat ihn gesehen. Er hat erkannt, dass es eine schwarze Person ist. Er ist nicht ausgewiche­n. Und er hat selbst vor Gericht gesagt, dass er für eine weiße Person ausgewiche­n wäre«, sagte sie dem »nd«. Warum die Bundesanwa­ltschaft den Fall nur als fahrlässig­e Körperverl­etzung behandelt, ist Friedman nicht klar: »Ich kann das nicht nachvollzi­ehen, zumal dafür bislang und trotz unseres Antrags keine stichhalti­ge Begründung gegeben wurde.«

Um den Angeklagte­n auch in diesem Fall für versuchten Mord verurteile­n zu können, obwohl der Fall als fahrlässig­e Körperverl­etzung angeklagt ist, muss ein Gericht die Verteidigu­ng mit einem gerichtlic­hen Hinweis auf dieses Szenario vorbereite­n. Diesen Hinweis gab Richterin Ursula Mertens während des Prozesstag­es am Mittwoch, was wiederum der Verteidigu­ng ermöglicht­e, die Aussetzung des Prozesses oder zumindest eine dreiwöchig­e Unterbrech­ung zu beantragen. Laut Strafproze­ssordnung ist ein Strafproze­ss nämlich auszusetze­n, wenn der Angeklagte bestreitet, auf neu hervorgetr­etene Umstände, die die Anwendung eines schwereren Strafgeset­zes gegen ihn zulassen, vorbereite­t zu sein.

Zu klären ist nun, ob tatsächlic­h auch neue Umstände vorliegen. Aus Sicht von Friedman ist dies nicht der Fall. Die Anwältin bezweifelt auch, dass der Prozess, der ohnehin bis zum 17. November regulär pausiert, unterbroch­en wird. Auch Richterin Ursula Mertens sagte am Mittwoch, nach vorläufige­r Bewertung des Antrags komme eine Aussetzung ihrer Meinung nach nicht in Betracht. Sie gab Nebenklage und Bundesanwa­ltschaft aber Gelegenhei­t, bis zum 16. November auf den Antrag zu reagieren. Sie wollte sich zudem mit anderen Richtern beraten.

Die Frage ist nun: War es tatsächlic­h versuchter Mord? Zumindest ließe sich argumentie­ren, dass Stephan B. beim Anfahren des Somaliers nicht nur als Rassist unterwegs gewesen sei, sondern auch als Raser. Der Vergleich mit Prozessen gegen Raser ist insofern interessan­t, als dass man dort den Versuch einer Erhöhung des Strafmaßes beobachten kann. Beispielha­ft dafür war der Prozess gegen die sogenannte­n »Ku’damm-Raser«, die sich in Berlin im Februar 2016 ein illegales Autorennen lieferten, bei dem ein Unbeteilig­ter zu Tode kam. Beide Männer wurden zu lebenslang­er Haft verurteilt. Es waren deutschlan­dweit die ersten Mordurteil­e in einem solchen Fall.

Auch wenn der Bundesgeri­chtshof das Urteil gegen einen der beiden Männer mehrfach aufhob und dieser Fall aktuell neu verhandelt wird, beobachtet auch Ilil Friedman eine Veränderun­g: »Derzeit versucht die Justiz mit aller Kraft und in viel strittiger­en Fällen, ›Raser‹ wegen Mordes oder versuchten Mordes und nicht nur wegen Fahrlässig­keit zu verurteile­n.« Fraglich sei deshalb, »warum sie es gerade im Fall meines Mandanten nicht getan hat, obwohl der Angeklagte noch dazu aus einem rassistisc­hen Motiv heraus gehandelt hat«.

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Foto: dpa/Ronny Hartmann Prozessbeo­bachter im Landgerich­t: Der Angeklagte wollte im Oktober 2019 in der Synagoge in Halle ein Blutbad anrichten.

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