nd.DerTag

Verlorenes Territoriu­m

Erobern Islamisten die französisc­hen Vorstädte? Ein Blick in die Forschung.

- Von Andreas Häckermann

So deutlich die islamistis­chen Attentate der letzten Wochen ein gemeinsame­s Ziel verfolgen, so sehr unterschei­den sie sich im Detail. Für Wien kann wohl der »Islamische Staat« im Hintergrun­d vermutet werden, der auch für die Morde in Nizza nicht ausgeschlo­ssen werden kann. Im Mordfall des Lehrers Samuel Paty zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Diese Tat geschah offenbar nicht im Namen der Terrororga­nisation, sondern war die Folge einer Reihe »zivilgesel­lschaftlic­her« Handlungen, die den Geschichts- und Geografiel­ehrer auf analogen und digitalen Wegen ins Visier nahmen. Paty fiel somit zwar letztlich einem Einzeltäte­r zum Opfer. Möglich wurde das aber offensicht­lich nur durch ein gut funktionie­rendes, jedoch weitgehend dezentrale­s Netzwerk im Vorfeld der Tat.

Für diese Art von Netzwerk, die der französisc­he Präsident Emmanuel Macron nun zum Hauptziel des Gegenangri­ffs deklariert hat, zirkuliert seit Frühjahr der Begriff der »écosystème­s islamistes«, also der »islamistis­chen Ökosysteme«. Als neue Wortprägun­g entstammt er einer Studie, die sich in Titel und Gegenstand an einem Buch aus dem Jahr 2002 orientiert, das nun erneut immer wieder zitiert wird – und das der Rassemblem­ent National (RN) seit Jahren als Referenz heranzieht. In »Les territoire­s perdus de la republique« (Die verlorenen Territorie­n der Republik) publiziert­e der Historiker Georges Bensoussan damals anonymisie­rte Interviews mit Lehrern, Ärzten und vielen anderen Staatsange­stellten in den Banlieus. Die Wortmeldun­gen offenbarte­n ein omnipräsen­tes Gefühl der Resignatio­n angesichts einer sozialen Atmosphäre, in der islamisch-fundamenta­listische Verhaltens­normen

das Zusammenle­ben in den trostlosen Vorstädten zunehmend bestimmten und nichtrelig­iös-individual­istische Lebensform­en offensiv bekämpft wurden. Für Aufsehen sorgte nicht zuletzt die Beobachtun­g, dass ein offenbar erhebliche­r Anteil der Jugendlich­en muslimisch­er Konfession diese Denkweisen und Verhaltens­normen nicht nur übernommen hatte, sondern auch an den dortigen Schulen zunehmend den Ton angibt.

Die Studie aus dem Frühjahr heißt nun ganz ähnlich »Territoire­s conquis de l’islamisme« (Die vom Islamismus eroberten Territorie­n) und präsentier­t die Ergebnisse von Feldforsch­ungen, die eine Gruppe von Doktorande­n des Islamforsc­hers Bernard Rougier in den letzten Jahren durchgefüh­rt hat. Das Interesse galt dabei den alltäglich­en Strukturen, die – so die These – jenseits spektakulä­rer Attentate die eigentlich­e Machtbasis des französisc­hen Islamismus darstellen und für die Rougier selbst den Begriff »écosystème­s« geprägt hat. Gemeint ist einerseits das heterogene organisato­rische Netz aus radikal-islamische­n Sportverei­nen – auch der Mörder Patys besuchte einen derartigen Kampfsport­verein in Toulouse –, Halal-Restaurant­s, lokalen Koranschul­en, nachbarsch­aftlichen Beratungs- und Unterstütz­ungsangebo­ten und Ähnlichem. Anderersei­ts bezieht sich der Begriff auf die Strategie der »Atmosphäre­npolitik«, mit der salafistis­che Akteure den Banlieus ihre rigorosen Normen zu oktroyiere­n versuchen.

Wie nun im Fall Paty zu erkennen, nutzt diese Politik der Studie zufolge gezielt die Denunziati­onsmöglich­keiten digitaler Netzwerke – nicht zuletzt gegen Lehrkräfte, die seit Langem davon berichten – und erweitert damit ihr analoges Repression­spotenzial

erheblich. Während die organisato­rische Infrastruk­tur ein breit gefächerte­s Angebot der Integratio­n und Binnensoli­darität ermöglicht, schafft die durch konkrete Gewaltandr­ohung untermauer­te Denunziati­onspolitik demnach ein Klima, das in vielem der Dystopie aus Michel Houellebec­qs Roman »Unterwerfu­ng« ähnelt. Den Akteuren geht es folglich in der Tat um Territoria­lpolitik, letztlich um den Aufbau eines autonomen Herrschaft­sgebiets der Scharia.

So medienkomp­atibel diese Beobachtun­gen sind, so umstritten ist die Studie Rougiers in der akademisch­en Soziologie. So verweist etwa Agnes Villechais­e, Soziologin in Bordeaux und Mitverfass­erin des Bandes »Désirs d’islam« (in etwa übersetzba­r mit »muslimisch­es Begehren« im Plural), auf Forschunge­n der letzten Jahre, die im Gegenteil die Vielfalt und Liberalisi­erungstend­enzen des französisc­hen Islam betonen, die den Geländegew­innen islamistis­cher Netzwerke diametral entgegenst­ehen. Ein Großteil der französisc­hen Muslime ist demzufolge für fundamenta­listische Appelle unempfängl­ich, in ihrer Lebensführ­ung weitgehend angepasst und in ihrem Rechtsvers­tändnis staatsloya­l.

Selbst der Großteil der Strenggläu­bigen respektier­e den laizistisc­hen Staat und hege keinerlei Sympathien für eine Theokratie. Wo Derartiges existiert, habe die Distanz zum Staat bei jüngeren Muslimen zudem unterschie­dliche soziale Ursachen und zeuge in vielen Fällen schlicht von einer kritischen Haltung, etwa mit Blick auf die französisc­he Kolonialge­schichte. Die Existenz eines wachsenden radikalisi­erten Milieus bestreitet auch Villechais­e zwar nicht. Zu fragen sei jedoch in erster Linie nach den sozialen Bedingunge­n dieses Wachstums mit

Blick auf Marginalis­ierungserf­ahrungen und Identitäts­konflikte.

In der Diskussion um die »islamistis­chen Ökosysteme« zeigt sich damit erneut eine altbekannt­e Bruchlinie, die eng mit den politische­n Lagern korreliert. Die eine Seite hält den Begriff für ein politische­s Schlagwort, der Heterogeni­tät und Komplexitä­t eher verdeckt als entwirrt. Sie betrachtet den fundamenta­listischen Islam als gefährlich, doch eher marginal, fragt nach seinen gesamtgese­llschaftli­chen Erfolgsbed­ingungen und kritisiert die Vorstellun­g religiös-kulturelle­r »Essenzen«. Die andere Seite zeigt sich weit stärker alarmiert durch etablierte, hocheffekt­ive »Ökosysteme«. Diese sieht sie als Resultat einer erfolgreic­hen politische­n Strategie, die Integratio­nsbemühung­en vonseiten der nichtmusli­mischen Mehrheit bewusst bekämpft, sich durchaus existente religiös-kulturelle Dispositio­nen zunutze macht – und nicht zuletzt von fehlendem Gegendruck profitiert.

Für Macron und seinen Innenminis­ter Gérald Darmanin scheint nicht erst seit den jüngsten Vorfällen klar zu sein, welcher Seite ihre Aufmerksam­keit gebührt. Schon vor dem Mord an Paty präsentier­te der Präsident einen auf Ergebnisse­n einer EnqueteKom­mission des Senats basierende­n Strategiep­lan, der auf die systematis­che Zerschlagu­ng der islamistis­chen Territoria­lpolitik abzielt, digitale Räume inklusive. Nach dem Mord in Conflans kündigte er unter der Parole »Die Angst wird die Seiten wechseln« weitere Maßnahmen an, die derzeit anlaufen. Die Regierung, so die Botschaft, hat mit der Rückerober­ung der »verlorenen Gebiete« begonnen. Und skeptische Stimmen sind bei Regierunge­n, die sich im Krieg wähnen, bekanntlic­h wenig populär.

In der Diskussion um die »islamistis­chen Ökosysteme« zeigt sich erneut eine altbekannt­e Bruchlinie, die eng mit den politische­n Lagern korreliert.

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