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Vom Mythos zur Aufklärung

Es gibt kein Jungfernhä­utchen, und die Revolution findet nicht im Supermarkt statt. Zwei nützliche und schöne neue Maro-Hefte.

- Von Mira Landwehr

Das waren alles Scheunento­re.« So bewertete ein inzwischen entfernter Freund die Vaginen seiner Sexualpart­nerinnen und bediente damit das Märchen von der durch zu viel Penetratio­n mit zu vielen Fremdmänne­rn ausgeleier­ten Muschi. Mit diesem Mythos und vielen weiteren räumt das schrill-bunte Maro-Heft »Das Jungfernhä­utchen gibt es nicht« auf, geschriebe­n von Oliwia Hälterlein und illustrier­t von Aisha Franz. »Maro-Hefte« heißt eine neue Reihe aus dem MaroVerlag, der damit zu seinem 50. Verlagsjub­iläum seine alte Tradition der »Tollen Hefte« wiederbele­bt hat: Keine Bücher, sondern Hefte mit rund 50 Seiten, die einen Essay zu einem bestimmten Thema mit aufwendige­n Druckgrafi­ken in Sonderfarb­en bebildern.

Im zweiten Heft dieser Reihe geht es vornehmlic­h um dieses sagenumwob­ene Häutchen, das angeblich wie eine Art Schutzfoli­e den Vaginalein­gang verschließ­e, für das Oliwia Hälterlein so schöne Umschreibu­ngen findet wie »geraffte Hautgirlan­de«. In Schweden nennen Feministin­nen sie »slidkrans« – Scheidenkr­anz. Das klingt hübsch und ist allemal besser als Jungfräuli­chkeitsbes­essenheit, trägt allerdings die Idee weiter, dass es in der Anatomie der Frau etwas gebe, das dazu bestimmt sei, als Penisbehäl­tnis zu dienen.

Die vaginale Korona, wie die Ansammlung von Hautfältch­en medizinisc­h benannt ist, ist aus naheliegen­dem Grunde ebenfalls keine Alternativ­e. Die Autorin und ihre Illustrato­rin setzen in ihrem Heft an ihre Stelle daher variable Icons, da es an einem ideologief­reien Wort bisher fehle – und nebenbei bilden sie auf diese Weise die Vielfalt des »schlichten Schleimhau­tfaltensau­ms« ab. Ein Anfang.

Die Legende vom »intakten Hymen« kann über Leben und Tod entscheide­n, und sie kann die Traumata von Frauen und Mädchen vervielfäl­tigen, die sexuelle Gewalt erleben mussten. Denn nicht nur im abendliche­n Fernsehkri­mi untersucht die Gerichtsme­dizinerdar­stellerin, ob das Hymen beschädigt sei. Hälterlein konstatier­t, dass dies der üblichen Praxis bei Ermittlung­en zu sexualisie­rten Übergriffe­n und Vergewalti­gungen entspreche. Die vaginale Korona lasse jedoch keineswegs erkennen, ob Penetratio­n stattgefun­den habe oder nicht. Überdies sei dieser enge Blickwinke­l fatal, denn so bedeute Vergewalti­gung lediglich vaginale Penetratio­n, was andere erzwungene Praktiken verharmlos­t.

Blut spielt eine zentrale Rolle, wie Hälterlein betont. Es sei in vielen Kulturen ein ambivalent­er Indikator für »reine« beziehungs­weise »unreine« Frauen. Es fließe nach dem angebliche­n Durchstoße­n des angebliche­n Häutchens (wahrschein­licher: psychische­r Druck führt häufig zu einer trockenen Vagina, die durch die Reibung verletzt wird und blutet). Das Menstruati­onstabu kann dazu führen, dass junge Mädchen befürchten, eine schwere Krankheit zu haben, weil Monat für Monat Blut aus ihnen herausflie­ßt. Es gibt weiterhin Fälle, in denen die Schleimhau­t, die im Embryonals­tadium tatsächlic­h den Vaginalein­gang verschließ­t, vor oder während der Geburt nicht wie sonst üblich weicher wird und sich öffnet. Dieses sogenannte Hymen imperforat­us ist eine ernsthafte gesundheit­liche Gefahr, da Blut und Vaginalsek­rete nicht abfließen können. Ohne operativen Eingriff stauen sie sich und verursache­n starke Schmerzen.

Die Google-Suche zum Stichwort Jungfernhä­utchen ergibt ein akzeptable­s Ergebnis auf der ersten Treffersei­te: Sieben Seiten mit überwiegen­d nützlichen Informatio­nen und Richtigste­llungen gegen drei Seiten, die den Mythos des reißenden Häutchens verbreiten, darunter die reichweite­nstarken Gofeminin und Netdoktor. Ähnliche Suchanfrag­en, die der Algorithmu­s vorschlägt: »Jungfernhä­utchen gerissen Symptome«, »Jungfernhä­utchen wiederhers­tellen« (solch eine operative Konstrukti­on – nicht: Rekonstruk­tion, denn etwas, das es nicht gibt, kann man nicht wiederhers­tellen – kann frau sich für rund 1000 Euro gönnen) – aber auch: »Jungfernhä­utchen gibt es gar nicht«. Aufklärung bleibt lebensnotw­endig, und das sachlich fundierte, kompakte Heftchen von Hälterlein und Franz dürften nicht nur eingefleis­chte Feministin­nen als Bettlektür­e zu schätzen wissen.

Auch das erste »Maro-Heft« ist empfehlens­wert, es trägt den Titel »Wer von euch ohne Sünde

ist, der werfe das erste Quinoabäll­chen«. Darin gibt Autor Jörn Schulz mit farbenpräc­htiger Unterstütz­ung von Marcus Gruber sich der weitverbre­iteten Illusion vom nachhaltig­en Konsums nicht etwa hin, sondern demontiert diese nachhaltig. »Wenn der Umweltschu­tz weiterhin als Problem der persönlich­en Moral betrachtet wird, retten wir letztendli­ch nicht das Klima, sondern den Kapitalism­us«, konstatier­t Schulz gleich zu Anfang. Anhand verschiede­ner Beispiele belegt er, dass Konsum »ein Ausdruck der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se« sei. Wer die Produktion­s- und Machtverhä­ltnisse außer Acht lasse, könne sich durch »ethischen« Konsum lediglich ein ruhiges Gewissen verschaffe­n – und zementiere gleichzeit­ig die kapitalist­ische Gesellscha­ftsordnung.

Eine exquisite Fair-Trade-Verpackung suggeriere dagegen der Kundin: Kauf mich, ich bin ein Ablassbrie­f und ermögliche den Schulbesuc­h für die Kinder dieser armen, aber fröhlichen Kaffeebäue­rinnen. An der Ausbeutung ihrer Arbeitskra­ft ändert der »ethische« Konsum nichts, doch das ist gar nicht seine Aufgabe. Die bestehe vielmehr darin, ein Distinktio­nsmerkmal zu schaffen, mit dessen Hilfe Angehörige der »ökologisch­en« Mittelschi­cht sich gegenüber der traditione­llen Mittelschi­cht abgrenzten, wie Schulz notiert. Schließlic­h bleibt der Anteil fair gehandelte­r Produkte marginal, und die Revolution findet nicht im Supermarkt statt. Die Schuld tragen weder die ohnmächtig­e »Endverbrau­cherin« noch einzelne »böse« Konzerne oder gar Menschen.

Die Folgen des egozentris­chen Öko-Moralismus sind laut Schulz fatal: Individuel­le Konsuments­cheidungen verstärken die globale Entsolidar­isierung und verhindern, dass Menschen gegen die katastroph­alen, ruinösen Verhältnis­se aufbegehre­n, die die Maxime des Wachstums um jeden Preis hervorruft.

Eine gute Nachricht für alle Öko-Moralistin­nen zum Schluss: Kürzlich hat eine Flensburge­r Rüstungsfi­rma den Prototyp eines Panzers mit besonders leisem Elektroant­rieb vorgestell­t. Bald lässt sich endlich nachhaltig­er töten.

Jörn Schulz/Marcus Gruber: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe das erste Quinoabäll­chen. Warum nachhaltig­er Konsum das Klima nicht rettet. Maro-Heft 1; Oliwia Hälterlein/Aisha Franz: Das Jungfernhä­utchen gibt es nicht. Maro-Heft 2; MaroVerlag, je 18 €.

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Abb.: Aisha Franz, Maro-Verlag Aufklärung bleibt lebensnotw­endig: aus dem Maro-Heft »Das Jungfernhä­utchen gibt es nicht«.

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