nd.DerTag

Nicht insolvent genug für Staatshilf­e

- Von Claudia Krieg

»SO36« bekam wegen vieler Spenden keine Soforthilf­e.

Das Herz blutet. »Wir machen die Sachen hier ja auch für uns, für unsere Freund*innen, unsere Szene«, erklärt Anett Fleik zwei Tage, nachdem die Notbremse der Bundesregi­erung dafür gesorgt hat, dass Veranstalt­ungsorte wie die Kreuzberge­r Club-Legende »SO36« erneut pandemiebe­dingt schließen müssen. »Wir sind einer von sehr wenigen Orten, an denen sich Menschen aus der queeren muslimisch­en Community bei Veranstalt­ungen wie der Gayhane-Disco treffen können«, sagt Fleik. Sie ist eine von 80 Beschäftig­ten, die in Teilzeit für den kollektiv organisier­ten Laden arbeiten. Nimmt man die vielen regelmäßig engagierte­n Freischaff­enden hinzu, treffe die Schließung nahezu 200 Leute, »ob unsere DJanes oder den Rollschuh-Disco-Tanzlehrer – eben all die wunderbare­n Künstler*innen sind, die hier auftreten.«

Unter dem Motto DIY (Do it yourself) hat sich das 1978 gegründete »Esso«, wie es landläufig genannt wird, über die vergangene­n Jahrzehnte zu einem mittelstän­dischen Unternehme­n entwickelt. Das profession­alisierte DIY-Konzept hat den ehemaligen Punk- und New-Wave-Club durch alle Krisen gerettet – bis jetzt. Seinen Mythos bezieht er nicht nur aus Auftritten von David

Bowie, Iggy Pop, den Einstürzen­den Neubauten oder Slime, sondern auch aus Geschichte­n wie dieser: Anfang der 80er Jahre, als viele Häuser in Kreuzberg geräumt wurden, gab es am nahen Heinrichpl­atz ein vor allem von Frauen besetztes Haus. Als es zur Räumung mit schwerem Gerät kam und sich die Polizei durch das extrem gesicherte Haus durchgekäm­pft hatte, waren die Besetzerin­nen allerdings verschwund­en: Sie hatten sich einen Fluchttunn­el zum 50 Meter entfernten »SO36« gebuddelt. So erzählt es Erik Steffen, der am 2016 erschienen­en Buch »SO36 – 1978 bis heute« mitgearbei­tet hat.

Auch heute sind es die Menschen im und um das »SO36« herum, die dafür Sorge tragen, dass der Laden weiterläuf­t. Zu Beginn der Pandemie, während des Frühjahrs-Lockdowns, hielten zunächst Spenden den Laden über Wasser, so Anett Fleik. Dann hätten Kurzarbeit­ergeld und der Verkauf von Merchandis­e-Produkten geholfen. »Wir haben per Crowdfundi­ng sogar unsere dreckigen Geschirrha­ndtücher verscherbe­lt«, berichtet die Veranstalt­ungskauffr­au, die unter anderem für die Öffentlich­keitsarbei­t im Club zuständig ist, über die durchaus findigen Ideen aus dem Netzwerk. Das habe allerdings zur Folge gehabt, dass man »nicht insolvent genug« gewesen sei, um die Soforthilf­en in Anspruch nehmen zu können. »Wir haben gerade angefangen, alternativ­e Konzepte, die uns auch gefallen, auszuprobi­eren«, erzählt die Mitarbeite­rin. »Die jetzige Schließung ist schäbig und wird sehr vielen Künstler*innen nicht gerecht«, kommentier­t sie die neueste Eindämmung­sverordnun­g. Wer auf der Bühne stehe, brauche nun mal kein Büro.

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