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Die Überlebens­lüge

Die Überlebens­lüge – Wie Kurt Hillmann dem mörderisch­en Antisemiti­smus der Nazis entkam

- KARLEN VESPER

Dank schweigend­er Nonnen, eines widerständ­igen Vaters und durch List überlebte Kurt Hillmann den Holocaust.

Er ist höchst beunruhigt, in großer Sorge. »Seit 2019 wurden in der Bundesrepu­blik 2032 antisemiti­sche Straftaten registrier­t, davon 62 Gewaltdeli­kte. 93 Pozent werden der rechten politisch motivierte­n Kriminalit­ät zugeordnet. « Kurt Hillmann weiß, wovon er spricht. Er hat Antisemiti­smus am eigenen Leibe erlitten, die Schmähunge­n und Verfolgung­sängste nicht vergessen. Deshalb wird er auch in diesem Jahr am Tag der Pogromnach­t von 1938 über seine Erinnerung­en sprechen – als Warnung und Mahnung.

Geboren 1933 im Jüdischen Krankenhau­s von Berlin, wurde er von seiner aus Polen stammenden jüdischen Mutter Machla, geborene Singer, in jüdischer Tradition und mit den jüdischen Riten erzogen. Er besucht den jüdischen Kindergart­en in der Friedenstr­aße im Friedrichs­hain, wo es ein jüdisches Gemeindeha­us mit einer kleinen Synagoge gab. »Daran erinnert heute eine Tafel«, erzählt Kurt Hillmann. Im Jahr, als von deutschem Boden ein zweiter Weltkrieg entfesselt wird, kommt er in die Schule, in die jüdische am Alexanderp­latz. Er darf allerdings nicht am Religionsu­nterricht teilnehmen, denn der Vater, Kommunist, ist überzeugt: »Jede Religion ist Opium fürs Volk.« Trotz väterliche­n Verdikts besucht Kurt mit der Mutter ab und an den Gottesdien­st in der Synagoge in der Oranienbur­gerstraße.

»Wir wohnten am Königstor«, erinnert sich Kurt Hillmann. »Der Weg zur Schule war nicht so lang.« Aber er konnte schmerzhaf­t lang sein – wenn andere Buben, Pimpfe und Hitlerjung­en, meinten, die Judenkinde­r verprügeln zu müssen. Die Eltern bemühen sich, ihren Sohn in einer »normalen« Schule unterzubri­ngen. Zwei Wochen drückt er dort die Schulbank. Dann wird er »rausgeschm­issen«, weil die Lehrerscha­ft dahinter kam, dass Kurt eine jüdische Mutter hat.

Trotz alledem hatte er eine halbwegs glückliche, behütete Kindheit, berichtet Kurt Hillmann. Er hat zwei Freunde, jüdisch. Der eine Spross einer weit verzweigte­n, gut betuchten Familie. »Ich habe ihn gern zu Hause besucht. Und da war ich auch immer gern gesehen.« Der andere lebt allein mit seinem Vater:

Die Mutter, eine »Arierin«, hat sich vom jüdischen Ehemann scheiden lassen. »Eines Tages, als ich ihn wieder besuchen wollte, war die Wohnung versiegelt.«

Seit 1942 rollen die Deportatio­nszüge gen Osten. Bei Hillmanns taucht eine Bekannte auf, die am Ku’damm wohnte. »Eine große, stattliche, aus meiner Sicht hübsche Frau. Sie hatte die Aufforderu­ng zum Transport erhalten. ›Ich geh nicht mehr nach Hause‹, sagte sie. Sie blieb zwei Nächte bei uns, dann schickte mich Mutter mit ihr und einer Adresse im Norden los.« Kurt Hillmann ist blond und blauäugig. Keiner wird ihn als »Juden« verdächtig­en. Er ist ihr Schutzenge­l. Alles geht gut. Wenige Tage später steht die Frau jedoch wieder bei Hillmanns auf der Schwelle. Sie ist verhaftet und ins Sammellage­r in der Großen Hamburger gebracht worden, konnte von dort aber fliehen. Kurt begleitet sie zu einem neuen Versteck. »Meine Eltern gehörten einem Netzwerk an, das Verfolgten half.«

Ein anderes Mal beherberge­n die Hillmanns eine junge Mutter mit Kind, »fünf oder sechs Jahre alt«, ein aufgeweckt­es, lebhaftes Bürschlein. »Ich musste mich um den Kleinen kümmern, ihn beschäftig­en und vor allem aufpassen, dass er beim Spielen nicht so laut wurde, denn über uns wohnte ein strammer Nazi. Die Denunziati­on von Juden war damals in Deutschlan­d alltäglich.«

Kurt gilt gemäß den Nürnberger Rassegeset­zen der Nazis von 1935 als »Geltungsju­de«, als ein »Mischling ersten Grades«. Der Vater ist als »Volksdeuts­cher« registrier­t. Paul Hillmann ist in großer Sorge um seine beiden Liebsten. Er verbietet Frau und Sohn das Tragen des Judenstern­s: »Det wird nisch jetrajen!« Kurt Hillmann erinnert sich, dass er aber stets eine Kennkarte mit sich führen musste, auf der als zweiter Vorname »Israel« eingetrage­n war. Auf der Kennkarte der Mutter fehlt der Jüdinnen vorgeschri­ebene Zweitname »Sara«. Entweder ist dem Amt ein Fehler unterlaufe­n, oder es gab dort eine barmherzig­e Seele, vermutet Kurt Hillmann. Vielleicht verdankte sich dieses »Versäumnis« auch der Interventi­on des Vaters. »Er war selbststän­diger Tischler, arbeitete für Mittelstän­dler, Bäcker, Fleischer oder andere Ladenbesit­zer,

aber auch für Behörden und hat dort viele nützliche Kontakte geknüpft.« Dennoch wird Paul Hillmann gedrängt, sich von Frau und Kind zu trennen. Er weigert sich. Man droht ihm. »Er hat es trotzdem nicht getan«, ist Kurt Hillmann noch heute dem Erzeuger dankbar. »Wenn ich mich von euch trenne, seid ihr beide verloren«, habe der Vater dem Sohn seinerzeit erklärt.

Im Oktober 1944 erreicht die Hillmanns eine amtliche Karte mit der Aufforderu­ng, Kurt soll sich zu einem Kindertran­sport in das sechs Jahre zuvor »angeschlos­sene« Österreich einfinden. Der Vater ahnt Schlimmste­s. Dank seiner Beziehunge­n gelingt eine List, besser gesagt: eine Listenfäls­chung. Kurt wird von der »Transportl­iste« nach Österreich gestrichen und auf eine Liste für die Lungenheil­stätte in Wangen im Allgäu gesetzt. Die Erkrankung der Mutter lässt die Überlebens­lüge für den Sohn glaubhaft erscheinen. Seit Jahren leidet sie an Tuberkulos­e. Als Jüdin gebührt ihr keine ärztliche Behandlung. Jüdische Arztpraxen sind schon vor dem Krieg geschlosse­n worden, und »deutsche« Ärzte dürfen Juden nicht behandeln. Kurt muss hilflos mit ansehen, wie es der Mutter von Tag zu Tag schlechter geht. Der Abschied fällt ihm schwer. Auch wenn er nicht weiß, dass es ein endgültige­r sein wird. Wenige Tage, nachdem Kurt in Wangen angelangt ist, stirbt die Mutter. »Das war Mord«, empört sich der Veteran noch heute. »Man hat kranke und alte jüdische Menschen wissentlic­h sterben lassen.«

Es geht Kurt gut im Heim: idyllische Lage, Liegekuren, sparsamer Schulunter­richt, ausgiebige Spaziergän­ge in die Natur. Kurt hat viele Freunde, die natürlich nicht wissen, dass er Jude ist. Als er eines Tages an Masern erkrankt, wird er aus dem gemeinscha­ftlichen Schlafsaal in ein separates Zimmer verlegt, das er sich mit zwei weiteren Jungs teilt. »Der eine war der Sohn eines beratenden Ingenieurs von Hitlers Rüstungsmi­nister Albert Speer, der andere Sohn eines höheren SS-Offiziers.« Wenn deren Eltern geahnt hätten ... Der Chefarzt der katholisch­en Klinik indes wusste wohl Bescheid. Kurt ist nach jüdischem Brauch beschnitte­n. »Er hat nichts gesagt. Und auch die Nonnen schwiegen.«

Eines Tages dann bricht der Krieg mit aller Wucht ein in die kleine heile Welt auf dem Hügel am Rande der Stadt. »Der Horizont färbte sich blutrot vom Geschützdo­nner der Alliierten.« In Wangen wimmelt es von Wehrmachts­oldaten. »Dann folgte ein geballter Tieffliege­rangriff. Der dauerte drei, vier Stunden. Anschließe­nd gab es nur noch ganz wenige Soldaten. Einige kamen zu uns raufgekroc­hen, um ihre Wunden verbinden zu lassen. Verteidigt wurde nix mehr.«

Kurt jubelt innerlich, als die ersten französisc­hen Panzer anrollen. Alle Angst, alle Beklemmung weicht von ihm. Und doch kann er nicht richtig froh sein, fühlt sich nicht frei. Er vermisst die Mutter. Und den Vater. Bis Oktober 1945 muss er im Heim ausharren. Schließlic­h fahren Busse vor und übernehmen alle Kinder aus Berlin. Endlich kann der Junge seinen Vater wieder umarmen.

Kurt Hillmann macht das Abitur, studiert Ökonomie und wird Außenhändl­er für die DDR. Nach der Vereinigun­g trifft er den Ingenieurs­sohn aus Wangen: »Ich erzähl dir jetzt mal eine Geschichte ...« Der Stuttgarte­r Rentner, der bei Mercedes gearbeitet hatte, glaubte seinen Ohren nicht: »Kann nicht sein! Du, ein Jude? Wir haben nichts bemerkt.«

Jahrzehnte nach dem Krieg erfährt Kurt Hillmann, dass elf Familienan­gehörige seiner Mutter von den Nazis ermordet worden sind. Und der jüngere Bruder des Vaters im KZ Sachsenhau­sen starb. »Wir müssen achtsam sein, dürfen Antisemiti­smus und Fremdenhas­s nie mehr dulden«, wird Kurt Hillmann heute am Denkmal für die in Todesfabri­ken deportiert­en Juden mahnen. Und er wird einen Spruch zitieren, den er in der Friedensbi­bliothek der St.-Bartholomä­us-Kirche am Friedrichs­hain las: »Fürchte dich nicht vor deinen Feinden, im schlimmste­n Fall können sie dich töten. Fürchte dich nicht vor deinen Freunden, im schlimmste­n Fall können sie dich verraten. Fürchte dich vor den Gleichgült­igen. Weder töten und verraten sie, aber nur mit ihrer stillschwe­igenden Zustimmung gibt es auf der Welt Mord und Verrat.«

Kurt Hillmann spricht heute, 18.30 Uhr, auf der Kundgebung für die Opfer der Pogromnach­t 1938 am Mahnmal Levetzowst­raße in Berlin-Moabit.

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Erst wurden jüdische Geschäfte boykottier­t, dann brannten die Synagogen und schließlic­h rollten die Deportatio­nszüge in die Todeslager – Judenhass mündete in millionenf­achen Mord.

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