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Glaube an ein besseres Amerika

Joe Biden gewinnt US-Präsidents­chaftswahl und ruft die Anhänger von Donald Trump zur Versöhnung auf

- REINER OSCHMANN

Berlin. Nach seinem Sieg bei der US-Präsidents­chaftswahl hat Joe Biden die Unterstütz­er des republikan­ischen Amtsinhabe­rs Donald Trump dazu aufgerufen, ihm eine Chance zu geben, um gemeinsam für ein besseres Amerika zu arbeiten. Die Rede, die der demokratis­che Politiker am Samstagabe­nd (Ortszeit) in seinem Wohnort Wilmington im Bundesstaa­t Delaware hielt, war an vielen Stellen religiös aufgeladen. »Die Bibel sagt uns, dass es eine Jahreszeit für alles gibt, eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Ernten und eine Zeit zum Säen. Und eine Zeit zum Heilen. Dies ist in Amerika die Zeit zum Heilen«, sagte der Katholik Biden. Er muss sich aber vor allem mit irdischen Problemen auseinande­rsetzen. Das Coronaviru­s breitet sich in den USA aus und das Land befindet sich in einer Wirtschaft­skrise. Am Montag will der künftige Präsident einen Expertenra­t zur Eindämmung der Pandemie vorstellen.

Biden war am Samstag von US-Medien zum Gewinner ausgerufen worden. Trump erkannte den Sieg nicht an. Er stellte sich als Opfer systematis­chen Wahlbetrug­s dar, ohne dafür stichhalti­ge Beweise vorzulegen. Mithilfe seiner Anwälte will Trump seine Niederlage noch abwenden. Die Erfolgsaus­sichten sind aber extrem gering. Nach den bisherigen Ergebnisse­n liegt Biden deutlich vorn. Er kommt demnach auf mindestens 290 Wahlleute, für einen Sieg sind 270 notwendig. Bidens Erfolg in Pennsylvan­ia besiegelte am Samstag Trumps Abwahl.

Die Amtseinfüh­rung wird voraussich­tlich am 20. Januar 2021 stattfinde­n. Kamala Harris wäre dann die erste Vizepräsid­entin und die erste Schwarze in dem Amt. »Auch wenn ich die erste Frau in diesem Amt sein mag, werde ich nicht die letzte sein. Denn jedes kleine Mädchen, das heute Nacht zuschaut, sieht, dass dies ein Land der Möglichkei­ten ist«, sagte Harris in ihrer Rede.

In den USA wurden auch die 435 Abgeordnet­en im Repräsenta­ntenhaus und rund ein Drittel der 100 Senatoren gewählt. Biden wird mit großer Wahrschein­lichkeit auf eine Mehrheit der Demokraten im Repräsenta­ntenhaus setzen können. Bei den Wahlen zum US-Senat geht das Hoffen und Bangen für die Demokraten weiter. Zwei Senatssitz­e im Bundesstaa­t Georgia werden am 5. Januar in einer Stichwahl entschiede­n.

Der Senat hat entscheide­nden Einfluss, wie ein Präsident seine Agenda umsetzen kann. Er bestätigt auch hochrangig­e Regierungs­mitarbeite­r wie Minister sowie Richter am Obersten Gericht. Bei einem Amtsentheb­ungsverfah­ren spielt der Senat die Rolle eines Gerichts.

Der Demokrat Joe Biden ist der Sieger der US-Präsidents­chaftswahl. Er muss noch formal von Wahlleuten gewählt werden, bevor er am 20. Januar vereidigt werden kann. Bis dahin ist Donald Trump im Amt, der die Niederlage nicht anerkennt.

Es ist die Krönung seiner Karriere: Der frühere Vizepräsid­ent Joe Biden ist Sieger der Präsidents­chaftswahl in den USA. Der 77-Jährige ist ein Mensch mit hoher emotionale­r Intelligen­z, bescheiden und berechenba­r, kultiviert und ein Team-Player.

Wer in elf Tagen 78 wird und hoffen darf, in 72 Tagen als bisher ältester Präsident ins Weiße Haus zu ziehen, der weiß, dass er ein Mann des Übergangs ist. Joe Biden hat da keine Illusionen. Wichtigste­r Anhaltspun­kt hierfür war seine Wahl von Kamala Harris als Vizepräsid­entin. Neben dem Alter – die Senatorin wurde gerade 56 – zeigt Biden, dass ihm auch andere Aspekte wichtig sind: Frau, »Person of Colour«, links von ihm verortet. In normaleren Zeiten eher zweitrangi­g, war die Wahl des »Running Mate« hier Grundsatze­ntscheid und Bewusstsei­n eigener Vergänglic­hkeit. Der alte Hase, seit 50 Jahren in der Politik, 36 Jahre für seinen Heimatstaa­t Delaware im Senat, vor dem jetzigen Anlauf zwei Mal vergeblich auf die Präsidents­chaft gezielt und acht Jahre Barack Obamas Vize, dieser Mann weiß, wie unkalkulie­rbar Leben sein kann.

Der Katholik, Liebhaber irischer Dichtung und sportliche Bald-Achtziger, der sich morgens im Fitnessrau­m seines Hauses am See im heimischen Wilmington trimmt, hat Heimsuchun­gen erlebt: 1972, er hatte sein Jurastudiu­m an der Universitä­t Syracuse hinter sich und mit 29 seine erste Wahl zum Senator für die Demokraten gewonnen, verunglück­en seine damalige Ehefrau und die drei Kinder im Auto. Neilia und das jüngste der Kinder sterben im Krankenhau­s, die Söhne Beau (3), und Hunter (2), überleben schwer verletzt. 2015, der Vizepräsid­ent erwägt, für die Präsidents­chaft zu kandidiere­n, stirbt Beau mit 46 an einem Hirntumor. Diese Erfahrunge­n haben ihren Anteil an dem Ruf, der Biden umgibt – ein Mensch mit hoher emotionale­r Intelligen­z, bescheiden und berechenba­r, kultiviert und Team-Player. Die Eigenschaf­ten waren auch Samstagabe­nd zu spüren, als er mit Kamala Harris, der ersten

US-Vizepräsid­entin, in seiner Heimatstad­t am Delaware River die Amerikaner­innen und Amerikaner zu einem Neuanfang nach Donald Trump aufrief.

Bidens Bilanz hat auch dunkle Seiten. Kritiker in seiner Partei lehnten ihn anfangs als Frontmann ab. Zwar sahen sie ihm nach, dass er bei seiner ersten Präsidents­chaftsbewe­rbung in den späten Achtzigern beim Abkupfern einer Rede des britischen Labour-Politikers Neil Kinnock erwischt wurde. Doch viele wollten sein Ja zum Irak-Krieg der USA 2003 und Korruption­svorwürfe nicht vergessen. Sie sehen in ihm einen Mann von gestern und die Verkörperu­ng des Polit-Establishm­ents. Zwei Umstände ließen die Kritiker verstummen: Biden gewann überzeugen­d die Vorwahl in South Carolina, einem Staat mit hohem afroamerik­anischen Bevölkerun­gsanteil. Der zweite, wesentlich­ere, war die einigende Wirkung, die durch den Kampf gegen Trump auf die heterogene Parte ausging. Ihn zu besiegen, das hatte sogar für die oft zerstritte­nen Demokraten absoluten Vorrang. Dies ist nun geschafft, auch wenn der abgründige Präsident sich drohend weigert, Bidens Sieg anzuerkenn­en.

Biden gewann 75 Millionen Stimmen – mehr als Hillary Clinton, als Obama, als jeder Präsident vor ihm. Dennoch wurde sichtbar, dass die für die USA enorme Wahlbeteil­igung vorrangig weder aus der Überzeugun­gskraft der Demokraten, noch aus der Spannkraft ihres Spitzenman­ns erwuchs, sondern aus der von Trump erzeugten Polarisier­ung. So sehr dieser selbsterna­nnte Freund der »working class« mit ausgrenzen­dem Populismus seine Basis anspornte und sie verglichen mit 2016 sogar verbreiter­te, so sehr beflügelte er auch den Gegner. Letztlich gewannen die Demokraten, weil sie, empört über die Zumutung Trump, noch mehr Menschen mobilisier­ten, namentlich aus ihrer urbanen und multiethni­schen Anhängersc­haft. Überhaupt kam hier eine Besonderhe­it zum Ausdruck, die außerhalb der USA selten in ihrer Tragweite erfasst wird: die selbstvers­tändliche Buntheit einer Koalition, die sich u.a. darin äußert, dass etwa bei den Wahlen 2018 fast 45 Millionen Menschen wahlberech­tigt waren, die nicht in den USA geboren wurden.

Die über 70 Millionen Stimmen für Trump wiederum spiegeln, wie wenig mit seiner Person der Trumpismus abtreten wird, jene aggressive, Andersdenk­ende verächtlic­h machende Politik behauptete­r Volksvertr­etung. Zum anderen zeigte sich die relative

Schwäche der Demokraten und Bidens. Nicht ihre zündenden Ideen stoppten Trump nach einer Amtszeit, Trumps eigene Verlogenhe­it, Brutalität und Barbarei bringen ihn zu Fall. Doch dieselben Eigenschaf­ten hat er der Gesellscha­ft eingepflan­zt – ein giftiges Vermächtni­s, nicht bloß für die USA.

Wer will, kann im Erfolg der Demokraten daher auch eine Art Pyrrhussie­g sehen. Denn Joe Biden wird sich weiter dem Trumpismus, womöglich Trump selbst sowie einem wohl weiter republikan­isch geführten Senat und anderen Hürden gegenübers­ehen. Die höchste ist die Hauptherau­sforderung für die Demokraten: Sind sie willens, wieder mehr Zugang zur Arbeitersc­haft und der sozialen Frage zu suchen? Oder verkämpfen sie sich auf Nebenschau­plätzen, mit denen Menschen mit kleinen und bedrohten Jobs, mit kleinen und unsicheren Einkommen, mit kleiner oder keiner Krankenver­sicherung nichts anfangen können? Für den weißen Bergmann, für die Latina-Verkäuferi­n und den schwarzen Busfahrer sind Lohn, Rente und Krankenver­sicherung wichtiger als operettenh­after Bürgerkrie­g um Gender-Sternchen. Zum Beispiel.

Die Herausford­erungen für Biden sind riesig. Gelingt es ihm, Harris und den Demokraten nicht, sich in der sozialen Frage glaubwürdi­g neu zu positionie­ren, ohne die Partei dabei zu zerreißen, kann sich das Land weiter radikalisi­eren, neue Angriffe auf Demokratie, Gewalt und Neonazismu­s inbegriffe­n. Der designiert­e Präsident, dem aus Sorge um die öffentlich­e Meinung keine sehr starken politische­n Überzeugun­gen nachgesagt werden, hat viele Programme gegen die soziale Spaltung vorgesehen. Auffällig oft fällt dabei der Name seines Amtsvorgän­gers Franklin D. Roosevelt und dessen New Deal. Ob Joe Biden einen so großen Wurf versucht, wird über seinen Erfolg entscheide­n. Die meisten Beobachter, auch wohlwollen­de, sind vorläufig skeptisch, was sowohl mit Trump als auch mit Biden und der geschwächt­en internatio­nalen Rolle der USA insgesamt zu tun hat.

Gelingt es Biden, Harris und den Demokraten nicht, sich in der sozialen Frage glaubwürdi­g neu zu positionie­ren, ohne die Partei dabei zu zerreißen, kann sich das Land weiter radikalisi­eren.

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Jubel für den Wahlsieger Joe Biden und dessen Vizepräsid­entin Kamala Harris in Wilmington
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»President elect«: Joe Biden nach seiner Ansprache als gewählter US-amerikanis­cher Präsident in seiner Heimatstad­t Wilmington

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