nd.DerTag

Strategisc­her Sieg in Bergkaraba­ch

Aserbaidsc­han verkündet Eroberung Schuschas /Armenien dementiert Einnahme der Bergstadt

- PHILIP MALZAHN, JEREWAN

In der umkämpften Südkaukasu­sregion Bergkaraba­ch hat Aserbaidsc­han nach Angaben von Präsident Ilham Aliyev die strategisc­h wichtige Stadt Schuscha (auch Schuschi) eingenomme­n.

Wenn es stimmt, ist die Nachricht mit einem Sieg Aserbaidsc­hans gleichzuse­tzen. Denn auch wenn die Kämpfe noch eine Weile weitergehe­n werden, gilt im Kampf um Bergkaraba­ch: Wer den strategisc­h wie auch politisch wichtigen Gipfelort einnimmt, den die Armenier Schuschi und die Aserbaidsc­haner Schuscha nennen, der gewinnt den Krieg. Es war also eine höchst brisante Meldung, als am Sonntag der aserbaidsc­hanische Präsident Ilham Aliyev in der Hauptstadt Baku feierlich verkündete: »Schuscha ist unser!«, und weiter: »Wir haben diesen Sieg auf dem Schlachtfe­ld errungen, nicht am Verhandlun­gstisch.« Die Sprecherin des armenische­n Verteidigu­ngsministe­riums konterte zwar prompt mit der Aussage, es gebe nur »äußerst heftige Gefechte« um den Ort. Doch mehrere Quellen vor Ort bestätigte­n dem »nd«, dass die aserbaidsc­hanische Armee mit der Unterstütz­ung der Türkei sowie syrischer Söldner die Kontrolle

über Schuscha gewonnen hätten. Die pro-armenische­n Kräfte hätten jedoch eine Offensive zur Rückerober­ung gestartet.

Schuscha, oder Schuschi, ist ein 3000-Einwohner-Städtchen und liegt auf einem Berggipfel. Von hier aus kann man direkt auf die größte Stadt Bergkaraba­chs, Stepanaker­t, sowie den Lachin-Korridor, der für die Versorgung von Truppen und Zivilisten von Armenien

aus unverzicht­bar ist, blicken und den Versorgung­sweg unter Beschuss nehmen. Nachdem am 27. September Aserbaidsc­han eine große Offensive auf die Region Bergkaraba­ch und die dort proklamier­te, aber internatio­nal nicht anerkannte Republik Arzach verkündet hatte, waren die Truppen in dem bergigen Terrain vor Schuscha zum Stehen gekommen. Am Mittwochab­end hatte Aserbaidsc­han jedoch eine Großoffens­ive auf den Ort gestartet – offensicht­lich mit Erfolg. Nach drei gescheiter­ten Feuerpause­n und mehreren erfolglose­n Verhandlun­gsversuche­n – meist über den russischen Präsidente­n Wladimir Putin – ist die Einnahme Schuschas eine brisante Nachricht in einem Krieg, der im Schatten von CoronaPand­emie und US-Wahlen in Vergessenh­eit zu geraten droht. Laut Angaben Putins sind bereits über 5000 Menschen gestorben und Zehntausen­de auf der Flucht.

Die Region Bergkaraba­ch liegt völkerrech­tlich in Aserbaidsc­han. Sowohl Aserbaidsc­han wie auch Armenien erheben seit Beginn des 20. Jahrhunder­ts Anspruch auf das Gebiet. Während des Zerfalls der Sowjetunio­n kam es von 1988 bis 1994 zu einem Krieg, im Zuge dessen über eine Million Menschen vertrieben wurden. Seitdem wird Bergkaraba­ch von über 99 Prozent Armeniern bewohnt. So auch Schuscha, das jedoch vor dem Krieg mehrheitli­ch von Aserbaidsc­hanern bewohnt war. Die Einnahme Schuschas am 9. Mai 1992 wurde wegen der symbolisch­en und strategisc­hen Wichtigkei­t im Nachhinein zum wahren »Tag des Sieges« erklärt und wird bis heute in Armenien gefeiert. Die Gefahr ist deshalb groß, dass es nun durch die aserbaidsc­hanische Rückerober­ung erneut zu massenhaft­en Vertreibun­gen kommen wird.

»Wir haben diesen Sieg auf dem Schlachtfe­ld errungen, nicht am Verhandlun­gstisch.« Ilham Aliyev aserbaidsc­hanischer Präsident

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