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Ausschreit­ungen nach Demo in Leipzig

Am Sonnabend eskalierte­n die Proteste von »Querdenker­n« und Rechten in Leipzig

- FABIAN HILLEBRAND UND NINA BÖCKMANN

Empörung über Gerichtsen­tscheid für »Querdenker«-Aufmarsch

Berlin. Nach Ausschreit­ungen bei einer Großdemons­tration gegen Corona-Maßnahmen am Sonnabend in Leipzig stehen Politik, Polizei und Justiz in der Kritik. Leipzigs Oberbürger­meister Burkhard Jung (SPD) zeigte sich am Sonntag empört über den Richterspr­uch des Oberverwal­tungsgeric­hts »fern jeglicher Realität«, mit dem die Kundgebung der Initiative »Querdenken« in der Innenstadt erlaubt wurde. Rund 20 000 Menschen nahmen teil. Nach vorzeitige­r Auflösung wegen Verstößen gegen Auflagen kam es teilweise zu gewalttäti­gen Ausschreit­ungen.

Innerhalb eines Tages haben die Gesundheit­sämter nach Angaben des RobertKoch-Instituts vom Sonntag in Deutschlan­d 16 017 neue Corona-Infektione­n gemeldet. Das sind rund 7000 Fälle weniger als am Tag zuvor, an dem mit 23 399 Fällen in 24 Stunden ein neuer Höchstwert erreicht worden war. An Sonntagen sind die erfassten Fallzahlen meist niedriger, auch weil am Wochenende weniger getestet wird. Vorigen Sonntag hatte die Zahl gemeldeter Neuinfekti­onen bei 14 177 gelegen.

Zehntausen­de Menschen haben in Leipzig gegen die Corona-Einschränk­ungen demonstrie­rt und dieselben dabei massenhaft missachtet.

Am Ende wurde ihnen alles gegeben, was sie wollten: Sie kamen zu Zigtausend nach Leipzig, missachtet­en kollektiv die Corona-Regeln und zogen am Ende triumphier­end über den Leipziger Innenstadt­ring, die Route der legendären Montagsdem­os in der DDR. Die Stadt hatte versucht, die Demonstrat­ion am Sonnabend zu verhindern, und wollte die Kundgebung auf Parkplätze­n an der Neuen Messe außerhalb der Innenstadt stattfinde­n lassen.

Erst in der Nacht zum Samstag hatte das Sächsische Oberverwal­tungsgeric­ht die Verlegung gekippt. Eine Begründung für das Urteil steht noch aus. Der Pressespre­cher der Stadt Leipzig, Matthias Hasberg, zeigte sich ob des Urteils am Samstagmor­gen gegenüber »nd« angeknarts­cht: »Das ist doch niemandem zu erklären, dass sich nur zwei Haushalte in der Öffentlich­keit treffen dürfen, aber 16 000 Menschen ohne Abstand demonstrie­ren«, äußerte er seinen Unmut.

Stadt und Polizei standen nun vor der Aufgabe, das Demonstrat­ionsgesche­hen in der Innenstadt zu regeln und dabei für den Infektions­schutz zu sorgen. Polizeispr­echer Olaf Hoppe gab eine Teilkapitu­lation bereits am frühen Vormittag bekannt. Er sagte gegenüber »nd«: »Nach der Gerichtsen­tscheidung wird es für uns ehrlich gesagt sehr schwer, den Infektions­schutz durchzuset­zen.« Doch wenigstens in einem zeigte sich der Polizeispr­echer zuversicht­lich: »Laufen ist heute hier nicht angesagt.« Das Oberverwal­tungsgeric­ht hatte zwar eine Veranstalt­ung erlaubt, verband diese Erlaubnis aber mit einer Maskenpfli­cht und gestattete nur eine stationäre Kundgebung.

So fand die Hauptveran­staltung der »Querdenker« am Augustuspl­atz statt. Die einen tanzten, sangen und meditierte­n, andere schwenkten Fahnen mit Bezug auf rechtsextr­eme Kreise. Esoteriker, Verschwöru­ngstheoret­iker, Hippies, schwäbisch­e Familien, die mit Autobussen angereist waren, sie alle fanden sich in ihrem Widerwille­n gegen die Corona-Maßnahmen zusammen – und missachtet­en dieselben dabei massenhaft.

Sie erklärten die gesamte Innenstadt zur maskenfrei­en Zone und kündigten bereits früh an, auf dem Ring laufen zu wollen. Dass dies später auch gelingen sollte, dafür sorgten besondere Gäste: Mehr als 500 gewaltbere­ite Hooligans und Nazis reisten am frühen Sonnabendv­ormittag an. Sie reihten sich ohne Widerspruc­h der »Querdenker« in die Menge ein und wären wohl kaum aufgefalle­n, hätten sie nicht als einzige schwarze Masken getragen. Infektiolo­gische Gründe dafür waren aber wohl eher zweitrangi­g.

Als die Veranstalt­ung, bei der nach Polizeiang­aben 20 000 Menschen, nach Bemessung der Initiative »durchgezäh­lt« sogar 45 000 Menschen teilnahmen, von der Stadt aufgelöst wurde, kamen die »Querdenker« dieser Aufforderu­ng nur schleppend nach.

Dann eskalierte die Situation. Die Demonstran­ten versuchten, auf den Ring zu gelangen. Unterstütz­t wurde ihre Forderung durch die Gewalt der schwarz vermummten Hooligan-Truppe: Während die Polizei sich einzelne Schlägerei­en lieferte, die Hools Böller, Raketen und Rauchtöpfe zündeten, Gegenständ­e auf die Polizei flogen, es Angriffe auf Pressevert­reter gab (die Journalist­engewerksc­haft DJU meldete am Abend mindestens 32 Attacken auf Reporter), nutzten die »Querdenker« das Chaos. Sie zogen auf den symbolträc­htigen Innenstadt­ring. Polizeiprä­sident Schulze erklärte gegenüber »nd«: »Es stellte sich die Frage der Verhältnis­mäßigkeit unserer Mittel, und Gewalt einzusetze­n war hier an dieser Stelle für uns nicht angezeigt. Man bekämpft keine Pandemie mit polizeilic­hen Mitteln, sondern nur mit der Vernunft der Menschen.«

Sprüche wie »Frieden, Freiheit, keine Diktatur« und »Merkel muss weg« skandierte­n die noch immer Tausenden Teilnehmer, als sie die Protestrou­te der Bewegung von 1989 abschritte­n. Warum war dieser Ort so wichtig für die »Querdenker«? Alexander Leistner forscht an der Universitä­t Leipzig zur politische­n Aneignung des Herbstes 1989. Er erklärt gegenüber »nd«, warum sich die »Querdenker« so häufig auf dieses Narrativ beziehen. Durch die Erzählung einer vermeintli­chen Gesundheit­sdiktatur, einer »DDR 2.0«, durch die Beschwörun­g, dass wie '89 die Zeit für einen Umsturz gekommen sei, würden die »Querdenker« ein breites Spektrum vereinen. Solche Begriffe seien inhaltlich sehr dünn, es steht keine große Programmat­ik hinter ihnen – und genau das macht sie so anschlussf­ähig. Leistner spricht von Nadelöhrbe­griffen – verschiede­ne Gruppen können ihren ideologisc­hen Strang nach Belieben einfädeln. So auch rechtsradi­kale Hooligans.

Rechtsextr­emismusexp­erte David Begrich nannte die Proteste gegenüber »nd« einen »rechten Wahnsinn mit Ansage«. Bis spät in die Nacht feierten die »Querdenker« ihren Erfolg. In den engen Gassen der Innenstadt war Abstandhal­ten nicht angesagt – auch nicht zu den gewaltbere­iten Hooligans.

Am Sonntag mehrten sich Kritik und Rufe nach Konsequenz­en: Die SPD-Politikeri­n Irena Rudolph-Kokot, die wegen Anfeindung­en gegen sie in der Nacht unter Polizeisch­utz stand, sagte dem »nd«: »Letztlich bleibt zu sagen, dass ich die Abwägung, die Versammlun­gsfreiheit vor den Schutz von Menschenle­ben zu stellen, für falsch halte.« Jürgen Kasek (Grüne) sprach gegenüber »nd« von einem »rabenschwa­rzen« Tag für Leipzig: »Ein Staat, der ein hartes Vorgehen ankündigt und dann darin versagt, Pressevert­reter und Bürger vor marodieren­den Nazis zu schützen, verliert seine demokratis­che Legitimitä­t«.

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Keine friedliche Revolution: Während der Demonstrat­ion in Leipzig kam es immer wieder zu Auseinande­rsetzungen.

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