nd.DerTag

Sie folgen dem weißen Hasen in eine neue Welt

Die Gewalt der »Querdenken«-Bewegung hat sich bereits lange angekündig­t

- PHILIP BLEES

Sie geben vor, die Demokratie retten zu wollen und pochen auf ihre bürgerlich­en Rechte. Doch der Glaube an Verschwöru­ngen führt bei vielen Corona-Leugner*innen zu einer Radikalisi­erung.

Die Corona-Pandemie wird beinahe durchgehen­d seit der Einführung der ersten härteren Maßnahmen von Protesten begleitet. Nach vielen verschiede­nen Selbstbeze­ichnungen und Formen – »Hygiene-Demonstrat­ionen« auf dem Berliner Rosa-LuxemburgP­latz, »Querdenken« aus Stuttgart oder »Demokratis­cher Widerstand« – hat man sich in den Medien mittlerwei­le auf »Corona-Leugner*innen« als Bezeichnun­g geeinigt, was das gesellscha­ftliche Phänomen erklären soll. Diese »Querdenken­den« sollen sich seit den großen Demonstrat­ionen im August radikalisi­ert haben, schreibt der anerkannte Rechtsextr­emismusexp­erte Olaf Sundermeye­r auf der Website des RBB. Auch in der Politik hat man dies inzwischen wahrgenomm­en: Folglich forderten Grünen-Politiker*innen jüngst in Berlin, Straftaten der Corona-Leugner*innen als politische Kriminalit­ät einzuordne­n.

Damit treffen sie einen Punkt: Tatsächlic­h sind die großen Demonstrat­ionen der Bewegung nur noch ein Teil des Aktionsfel­des. Ihre Gegner*innen werden mittlerwei­le immer wieder bedroht. Beispielsw­eise ist

Thüringens Ministerpr­äsident Bodo Ramelow (Linke) nach scharfer Kritik an den Protesten in ihr Fadenkreuz geraten. Ihm wurde ein Grablicht vor seinen Wohnsitz gestellt, nachdem seine private Adresse in einer einschlägi­gen Chatgruppe veröffentl­icht wurde. Hinzu kommen immer wieder Aktionen oder Flashmobs, bei denen Aktivist*innen zum Beispiel ohne Maske in Kaufhäuser gehen und dabei aggressiv auftreten. Es ließen sich noch zahlreiche weitere Aktionen aufzählen.

Dass es einen demokratie­feindliche­n und auch gewaltbere­iten Kern der Proteste gibt, sollte allerdings niemanden überrasche­n. Schon von Beginn an konnten Rechtsextr­emist*innen auf den Demonstrat­ionen offen auftreten. Allein das Meer an Reichsfahn­en vor dem Berliner Brandenbur­ger Tor ist dafür Beweis genug. Die Rechten sind offensicht­lich ein willkommen­er Teil der Bewegung. Dass sie auch Gewalt anwenden, ist nichts Neues.

Aber auch angeblich liebe Bürger*innen von nebenan sind nicht immer ungefährli­ch. Sie reihen sich ein in eine antimodern­e Reaktion auf die gesellscha­ftlichen Verwerfung­en, die sich im Jahr 2020 vornehmlic­h an der Corona-Pandemie festmachen lassen. Dass man dabei oftmals nur schwer zwischen besorgten Bürger*innen, die von ihrem Anrecht auf Protest Gebrauch machen, und gewaltbere­iten Neonazis, die den Protest vereinnahm­en wollen, unterschei­den kann, zeigt die Vergangenh­eit. Protestfor­scher*innen ziehen jetzt schon Parallelen zwischen den Anti-Corona-Protesten und Pegida. Es handele sich um einen ähnlichen autoritäre­n Gestus wie bei der rassistisc­hen Bewegung, die sich Ende 2014 gegen eine angebliche Islamisier­ung gründete und in Reaktion auf die Migrations­bewegungen 2015 erstarkte. In ihrer Hochzeit waren auch bei Pegida-Veranstalt­ungen mehrere Zehntausen­d Menschen auf der Straße. Zugleich gab es eine Welle von rassistisc­hen Brandansch­lägen auf Flüchtling­sunterkünf­te, die in der Pegida-Bewegung durchaus einen Resonanzra­um fand. Von dieser aufgeheizt­en Stimmung profitiert­e letztlich auch die AfD, die einen Wahlsieg nach dem anderen einfuhr. Auch hier hat also eine Radikalisi­erung stattgefun­den.

Warum sich Corona-Leugner*innen allerdings erst jetzt aktionisti­sch geben, kann man nur bedingt durch eine Analyse der Pegida-Bewegung erklären. Dies lässt sich eher auf andere Faktoren zurückführ­en: Gegenwärti­g erfährt die Corona-Pandemie eine zweite Welle, infolge der es so viele Infektione­n wie noch nie gibt, was die Besorgnis in der Bevölkerun­g maßgeblich erhöht.

Erst Ende Oktober hat das gewerkscha­ftseigene Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­che Institut (WSI) Ergebnisse einer Studie zum Zusammenha­ng von Einkommens­einbußen durch die Corona-Pandemie und Befürchtun­gen

von Verschwöru­ngen veröffentl­icht. Das Ergebnis verwundert­e nicht: Die Empfänglic­hkeit für solche Mythen sei bei erlittenen Verdienste­inbußen um neun Prozent höher. Da nun wieder härtere Kontaktbes­chränkunge­n greifen, ist zu befürchten, dass sich dieser Effekt noch erhöht. Zudem ziehen sich die Proteste nun auch schon einige Monate hin. Bei einigen könnte sich das Gefühl eingeschli­chen haben, dass legale Methoden keinen Effekt haben. Dies entspräche einer gängigen Begründung für eine Radikalisi­erung.

Auf Basis der Studie des WSI könnten nun einige Linke für eine klassenkäm­pferische Strategie gegen die Corona-Leugner*innen plädieren. Das mag auch eine Grundlage haben, aber den Protestler*innen sollte dabei auf keiner Ebene recht gegeben werden. Ihre Ideologie ist eine dogmatisch­e, es wird schwer sein, sie in einer Diskussion auf Augenhöhe zu widerlegen. Schließlic­h folgt ihr Prozess einer Radikalisi­erung oftmals durch antisemiti­sche Verschwöru­ngsmythen. Gerade das sogenannte QAnon-Narrativ setzt hier ideologisc­he Maßstäbe. Danach folgt man wie im Kinderbuch »Alice im Wunderland« einem weißen Hasen in eine völlig neue Welt und erkennt nun erstmals die Verschwöru­ngen in der alten. Die Rationalit­ät bleibt dabei auf der Strecke. Mit Gewaltausb­rüchen ist bei diesem Sinneswand­el allerdings durchaus zu rechnen.

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