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Wo Corona auf Brexit trifft

In Gibraltar nehmen die Einschränk­ungen wegen der Pandemie eine mögliche Zukunft vorweg

- MAREN HÄUSSERMAN­N, GIBRALTAR

Einer der Streitpunk­te des Brexits befindet sich im Süden der iberischen Halbinsel. Das britische Überseegeb­iet Gibraltar und das angrenzend­e Spanien erleben durch die Corona-Restriktio­nen eine Situation, wie sie künftig dauerhaft sein könnte.

Die Grenze zwischen Spanien und Gibraltar, sie ist an diesen Tagen langweilig. An der Stelle, wo vergangene­s Jahr noch Autos, Mopeds und Elektrosco­oter aus allen Himmelsric­htungen im Stau standen, ist nun alles leer. Die Kontrollst­ellen unter Palmen passieren an diesen Tagen nur Pendler.

Die Pandemie hat das britische Überseegeb­iet Gibraltar hart getroffen. »Vorher kamen allein mit den Kreuzfahrt­schiffen bis zu 12 000 Menschen pro Tag«, erzählt der 21jährige Jaime im Touristens­chalter am Grenzüberg­ang. »Heute kamen vielleicht zehn.« Aber nicht nur Gibraltar lebt vom Tourismus, auch die angrenzend­e spanische Stadt La Línea de la Concepción hängt davon ab. Mehr als 15 000 Pendler überqueren täglich die Grenze. Gibraltar ist der wichtigste Arbeitgebe­r in der Region und ohne den Felsen sind die Spanier verloren, da sind sie sich sicher.

Jorge Martín arbeitet in einer Tapasbar, gegenüber der ältesten Kirche in La Línea. Auf dem Vorplatz spielt sich das Leben ab, aber an diesen Tagen sind die Restaurant­s leer. Man öffnet für ein bis zwei Tische. »Die Regierung hat uns mit etwas Geld unterstütz­t, aber davon konnten wir nicht mal die Miete und den Strom bezahlen«, erzählt der 57-Jährige. La Línea de la Concepción ist eine der ärmsten Städte Spaniens. Die Arbeitslos­igkeit liegt bei 20 Prozent. Regelmäßig landet sie in den Nachrichte­n, weil die schlechte wirtschaft­liche Lage die Menschen in die Kriminalit­ät treibt, sie die geografisc­he Lage ausnutzen und Drogen schmuggeln. Das war nicht immer so.

Die Menschen schwelgen in Erinnerung­en, wie das ganze Umland sich auf dem Markt von La Línea traf, wie die Stars hier ihre Konzerte gaben und die Fiestas großartig waren. Aber dann schloss der spanische Diktator Francisco Franco die Grenze. Er schloss die Gibraltare­r ein und die Spanier aus. Er zerstörte Beziehunge­n und Familien und beendete den Austausch, der für beide Seiten hilfreich war. Nervös blinkt man deshalb heutzutage auf die stockenden Brexit-Verhandlun­gen zwischen Madrid und London, das Gibraltar nach außen vertritt.

Die rund 36 000 Menschen in La Línea und über 30 000 Gibraltare­r hoffen darauf, dass für sie selbst im Fall eines harten Brexits eine Lösung gefunden wird. Aktuell spricht man darüber, Gibraltar zum Teil der Schengenzo­ne zu machen, um die freie Grenzbeweg­ung zu retten. Aber alles ist unsicher und die Stimmung ist gedrückt. Die Pandemie hat Erinnerung­en geweckt, die man vergessen wollte.

Von März bis Juni war Spanien in einem Lockdown. Seit Oktober sind die Grenzen der Region Andalusien erneut geschlosse­n. In ganz Spanien herrscht aktuell eine Ausgangssp­erre zwischen 23 und 6 Uhr, um zehn nach zehn abends müssen die Kellner die Gäste rausschmei­ßen. Das passt nicht zu einer Kultur, in der man sich erst um 21 Uhr zum Abendessen trifft und in der die Stadt das Wohnzimmer ersetzt. Wenigstens das Umfeld von Gibraltar, die Berge, Strände und Felder, laden zu Wochenenda­usflügen ein. »Im Sommer habe ich jede freie Sekunde in Spanien ausgenutzt«, sagt der Gibraltare­r Jamie. Jeden Tag stellt sich für ihn aufs Neue die Frage, ob er das 6,5 Quadratmet­er große Gibraltar verlassen kann.

Auf dem Hauptplatz Casemates sitzen Familien in der Sonne und genießen ihr Abendessen. Erst seit Ende Oktober ist es auch an diesem Platz vorgeschri­eben, eine Maske zu tragen. Die Gibraltare­r nutzten das Fernbleibe­n der Besucher im Frühjahr, um ihre Stadt zu renovieren. Die Regierung hat Steuern nachgelass­en, damit möglichst viele Leute diese Option nutzen und so Arbeit schaffen. Als eines der wenigen Ferienziel­e für die Briten hat sich der Felsen im Süden der iberischen Halbinsel im Jahr 2020 zumindest als Heiratsdes­tination bewährt. Die Erfahrung hat die Gibraltare­r gelehrt, dass sie auch mit einer geschlosse­nen Grenze irgendwie leben können. Die Spanier dagegen sehen in der Kombinatio­n aus Brexit und Pandemie düstere Zeiten auf sich zukommen.

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Die Kontrollst­ellen passieren in diesen Tagen in Gibraltar nur Pendler.

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