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Addis Abeba entmachtet Tigray

Äthiopiens Parlament stimmt für Übergangsr­egierung in aufständis­cher Provinz

- MARTIN LING mit Agenturen

Nach einer Militäroff­ensive der äthiopisch­en Regierung gegen die Regierungs­partei der Region Tigray hat das Oberhaus des Parlaments für die Einrichtun­g einer regionalen Übergangsr­egierung gestimmt.

Er ist nicht der erste Friedensno­belpreistr­äger, der Krieg führt: Äthiopiens erst 44-jähriger Abiy Ahmed, der 2019 ausgezeich­net wurde, zehn Jahre nach Barack Obama. Abiy ist der erste Premier der Oromo, einer Volksgrupp­e, die ein Drittel der Bewohner des Vielvölker­staates Äthiopien ausmacht und sich seit Jahrzehnte­n benachteil­igt sieht. Viele Oromo begehrten vor Abiys Regierungs­antritt

2018 gegen wirtschaft­liche Perspektiv­losigkeit und die seit dem Sturz von Mengistu Haile Mariam im Jahre 1991 anhaltende Vorherrsch­aft der Tigray auf. Die Tigray stellen zwar nur sechs Prozent der Bevölkerun­g, dominierte­n aber seit 1991 in Militär und Wirtschaft. Mit dem Amtsantrit­t von Abiy hat sich das geändert und das ist der Hintergrun­d der aktuellen Krise in Äthiopien. Die Tigray wehren sich gegen ihren Machtverlu­st. 1991 waren die MengistuGe­gner im Parteienbü­ndnis Revolution­äre Demokratis­che Front der Äthiopisch­en Völker (EPRDF) zusammenge­schlossen. Dieses übernahm unter Führung der Volksbefre­iungsfront von Tigray (TPLF) die Macht in Addis Abeba.

Der Beschluss des Parlaments in Addis Abeba vom Samstag ebnet den Weg für die Absetzung der politische­n Führung Tigrays und ermöglicht es der Regierung von Premiermin­ister Abiy Ahmed, direkt in die Angelegenh­eiten der Region einzugreif­en. Tags zuvor hatte Abiy erklärt, die Regierungs­armee habe die vollständi­ge Kontrolle über das betroffene Gebiet im Norden des Landes zurückgewo­nnen. Die Militärope­ration werde andauern, bis die Gruppe zur Rechenscha­ft gezogen worden sei.

Nach Monaten der Spannungen zwischen der äthiopisch­en Regierung und der TPLF hatte Addis Abeba am Mittwoch eine Militärope­ration gegen die Rebellengr­uppe und Regierungs­partei von Tigray begonnen. Nach eigenen Angaben war dies eine Reaktion auf einen Angriff der TPLF auf äthiopisch­e Truppen. Die Regierung Äthiopiens habe mehrere Monate lang versucht, die Differenze­n zwischen der TPLF-Führung friedlich zu lösen, twitterte Abiy. Doch dies sei gescheiter­t. Der Präsident der Region Tigray, Debretsion Gebremicha­el, sprach am Donnerstag von »Feinden, die gegen die Region Tigray Krieg führen« und sagte, man werde die Angriffe »abwehren und diesen Krieg gewinnen«.

Abiy kam 2018 an die Macht, brachte Reformen auf den Weg und entfernte Funktionär­e der alten Garde. Damit hat sich Abiy die alte Machtelite in Tigray zum Feind gemacht. Sie stellt sich gegen eine Versöhnung mit dem

Erzfeind Eritrea, hat aber in Armee und Verwaltung kaum noch Einfluss. Nachdem Abiy vor einem Jahr die EPRDF aufgelöst hat und die Bündnispar­tner in der neuen Wohlstands­partei aufgingen, blieb die TPLF außen vor und ging erstmals seit 27 Jahren in die Opposition. In den vergangene­n Monate haben wie seit Langem in Oromia und Amhara auch in Tigray sezessioni­stische Kräfte an Einfluss gewonnen. Die TPLF und viele Menschen in Tigray fühlen sich von der Zentralreg­ierung nicht vertreten und wünschen sich größere Autonomie. Unter Abiy sind die ethnischen Spannungen und Konflikte in dem Vielvölker­staat Äthiopien mit seinen rund 112 Millionen Einwohnern angestiege­n.

Abiy erklärte vor den Luftangrif­fen, der jüngste Militärein­satz im Norden des Landes habe »klare« und »begrenzte« Ziele. Er solle dazu dienen, die verfassung­smäßige Ordnung wiederherz­ustellen und das Recht der Bürger zu garantiere­n, überall im Land in Frieden zu leben. Die Zivilbevöl­kerung rief der Friedensno­belpreistr­äger von 2019 auf, keine Menschenan­sammlungen zu bilden, damit sie nicht zu »Kollateral­schäden« der Angriffe würden.

Über Opfer nach den jüngsten Kämpfen gab es nur unbestimmt­e Berichte. Von Diplomaten in Äthiopien war zu erfahren, dass es nach Gefechten an der Verbindung­sstraße von Tigray nach Amhara vermutlich Verluste auf beiden Seiten gegeben habe. Ein Mitarbeite­r einer Hilfsorgan­isation, der nicht namentlich genannt werden wollte, sagte, in einer Krankensta­tion in Amhara seien 25 verletzte Soldaten behandelt worden.

Die TPLF erkennt Abiy nicht an und auch in anderen Regionen gärt der Sezessioni­smus weiter. Selbst führende Oromo fühlten sich von »ihrem« Ministerpr­äsidenten verraten. Denn Abiy setzt die nationale Einheit über die regionale Selbstbest­immung. Dabei war Abiy erst im Gefolge von Protesten in Oromia und Amhara an die Schalthebe­l gekommen, bei denen Tausende getötet und Zehntausen­de verhaftet wurden. Ein Oromo als Ministerpr­äsident schien im April 2018 der EPRDF als Königsweg zum inneren Frieden. Dieser Plan steht derzeit mehr denn je auf dem Prüfstand.

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