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Der neue Spielplan

Bühnen weichen ins Netz aus, die Theaterkri­tik diskutiert über Dramatik

- JAKOB HAYNER

Nicht, dass die Theater hierzuland­e still ständen. Es wird weiter eifrig geprobt, wie allerorten weiter gearbeitet wird, und wieder einmal muss hektisch umdisponie­rt werden, denn die Bühnen sind vorerst für Publikum gesperrt. Das hat die Regierung verfügt, damit das Großkapita­l uneingesch­ränkt weiter akkumulier­en kann. Freuen tut’s nebenher die Propagandi­sten der Digitalisi­erung, die nicht müde werden, jegliche Verbannung des Lebens in den Bildschirm als Fortschrit­t zu preisen – SecondLife als Realdystop­ie. Der in der DDR nicht unübliche Spott über neue Wohn- und Lebensräum­e als »Arbeitersc­hließfäche­r« oder »Fickzellen mit Fernheizun­g«, wie es Heiner Müller ausdrückte, erhält nun einen aktualisie­rten Sinn – plus die Lieferlohn­sklaven von Lieferando und Co. So harrt man aus, durch Mittelklas­sensnobism­us oder Prekarität­szynismus sediert, während die Welt sich rasant verändert und man immer überflüssi­ger wird.

»Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichk­eit als wie die Dummheit«, hatte Ödon von Horváth bewusst ungelenk seinem grandiosen Abfuckstüc­k »Geschichte­n aus dem Wienerwald« vorangeste­llt. 1931 am Deutschen Theater Berlin uraufgefüh­rt, zog es den Hass der rechten Presse auf sich, weil es ungemilder­t die Gemeinheit und Niedertrac­ht des Kleinbürge­rtums zeigte – als Voraussetz­ung des schon nach der Staatsmach­t schielende­n Faschismus. Dummheit, das war für Horváth keine Natur-, sondern eine gesellscha­ftliche Sache, die erwünschte und belohnte Abwehr von Erkenntnis. »Ich habe kein anderes Ziel als dies: Demaskieru­ng des Bewusstsei­ns«, sagte der Dramatiker über sich selbst. Am Schauspiel­haus Hamburg hat Heike M. Goetze das Wirtschaft­skrisenstü­ck als ein düsteres Irren im Gestrüpp inszeniert, die Premiere wurde am Samstag für 1000 Zuschauer direkt im Netz übertragen.

Horváth gehört mit seinen gegen das Völkische gewendeten Volksstück­en wie »Geschichte­n aus dem Wienerwald«, »Kasimir und Karoline«, »Glaube, Liebe, Hoffnung« und »Italienisc­he Nacht« zum Kanon der auf deutschspr­achigen Bühnen gespielten Texten. Zum zweiten Mal abgesagt werden musste nun die fürs Wochenende geplante »Lange Nacht der vergessene­n Stücke« an der

Berliner Volksbühne. Organisier­t von Simon Strauß, dem Theaterred­akteur der »FAZ«, sollte dort über die kaum oder nicht gespielten Glanzpunkt­e der dramatisch­en Literatur diskutiert werden – von Lord Byron bis Peter Hacks. Ausgangspu­nkt war eine von Strauß initiierte Reihe von Artikeln, die in dem Buch »Spielplanä­nderung!« dokumentie­rt ist. Unter gleichem Titel gibt es nun eine Videoserie im Netz, die heute startet.

Die Frage, die für die künstleris­che Zukunft des Theaters zentral ist, betrifft die »Eigenart der dramatisch­en Gattung«, so Strauß. Man sollte das keineswegs als eine Frage des ästhetisch­en Konservati­smus begreifen. Was ein Theatertex­t vermag, ist nicht deswegen bemerkensw­ert, weil es die Tradition verbürgt, sondern weil es unsere Welt zu enträtseln hilft – auf kritische Weise. Horváth ist nur ein Beispiel, wie auch Bertolt Brecht und Marieluise Fleißer. Ein Bühnentext, der große Widersprüc­he fasst, zeigt nämlich, wie Menschen unter nicht selbstgewä­hlten Bedingunge­n etwas zu tun versuchen. Die Folgen ihrer Handlungen fallen nicht mit den Absichten in eins, die Sprache kontrastie­rt das Sein, außerdem spielen Ökonomie und Psychologi­e hinein. Wie wir unser eigenes gesellscha­ftliches Sein auf der Bühne darstellen, und uns dabei weniger belügen, als wir es alltäglich tun, bleibt weiterhin zu debattiere­n.

Ein Bühnentext zeigt nämlich, wie Menschen unter nicht selbstgewä­hlten Bedingunge­n etwas zu tun versuchen.

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