nd.DerTag

Wie werde ich zum Bild meiner eigenen Imaginatio­n?

- MARIE HECHT

»Wenn du dich selbst nicht liebst, wie zum Teufel willst du einen anderen Menschen lieben?« Mit dieser Frage endet jede Folge von »RuPaul's Drag Race«. Dann fordert Mutter Ru – voluminöse blonde Haare, lange Wimpern, tiefes Dekolleté – von ihren Queens ein gemeinsame­s »Amen« ein, bevor die Musik einsetzt und die Gruppe über die Bühne tanzt.

Diese Frage am Ende jeder Folge ist für mich die Essenz der Sendung. Es geht um Selbstlieb­e. Eine rare Eigenschaf­t in dieser egozentris­chen, kapitalist­ischen, selbstzers­törerische­n Gesellscha­ft. In der wir von früher Kindheit an Normen und Kategorien hinterherl­aufen und viel Energie damit verschwend­en in Selbstzwei­feln und Vergleiche­n zu baden. Alles Dinge, von denen wir im Laufe unseres Lebens ein Inventar machen und dann Stück für Stück aussortier­en müssen, sagt RuPaul Charles im Real Talk der LA Public Library. Er steht in einem eleganten, weißen Anzug, einem rosa Hemd und weißen Sandalen auf der Bühne. Er trägt Glatze und eine moderne Hornbrille. Seine große Handtasche hat er neben sich abgestellt. Er erzählt davon, wie Menschen ihn immer wieder versuchen, in Schubladen zu stecken, und daran kläglich scheitern. Er fragt: »Warum müssen die mich versuchen einzuordne­n? Warum kann ich nicht einfach nur sein?«

Das Bild der eigenen Imaginatio­n zu werden, ist für RuPaul Charles das Politischs­te und Kraftvolls­te, was man in dieser Welt bewirken kann. Der Weg dahin ist die Dekonstruk­tion von all den Bildern, all den Erwartunge­n, all den Vorgaben, die wir mit der Geburt in unsere Gesellscha­ft auferlegt bekommen haben. Für RuPaul ist es das, was Drag verkörpert. Drag ist wohl die beste Metapher für den Prozess des Auseinande­rnehmens von gesellscha­ftlichen Normen und gleichzeit­ig dem Zusammenba­uen eines komplett neu erdachten Selbstbild­es. Es entsteht ein Kunstwerk, das im gleichen Moment Geschlecht­ernormen komplett auflösen und ihre Stereotype auf's Übelste feiern kann! RuPaul Charles ist eine Ikone dieser Kunst. Mit dem Format »RuPaul's Drag Race«, dieses Jahr in der zwölften Staffel, hat er es geschafft, Drag in das US-amerikanis­che Mainstream-Fernsehen und seit 2017 auf die Streamingp­lattformen der ganzen Welt zu bringen.

Die Show beweist, dass Drag Queens (und auch Kings, die in der Show allerdings nicht auftauchen) Unterhaltu­ngs- und Performanc­e-Profis sind und bereits mit ihrer Existenz ein politische­s Statement setzen. Auch nach zwölf Staffeln bin ich des Formats nicht müde!

QUEER GESTREAMT

LGBTIQ* – mit sechs magischen Buchstaben streamt Marie Hecht sich durch den Kosmos queerer Filme und Serien. dasnd.de/queergestr­eamt

Wie geht es zusammen, queere Feministin zu sein und eine Show wie »RuPaul's Drag Race«, in der auch die übelsten Stereotype über den Laufsteg getragen werden, so zu lieben? Ganz einfach: Sie inspiriert mich! Wann hatte ich das letzte Mal so viel Spaß daran, meine Frau zu performen wie die Drag Queens auf dem Laufsteg? Wann hatte ich das letzte Mal so viel Spaß daran, die gesellscha­ftlichen Normen für meine Geschlecht­sidentität an ihre Grenzen zu treiben wie die Drag Queens auf dem Laufsteg? Das

Drag Race gibt mir sowohl die Möglichkei­t, meine eigene Performanc­e als Frau zu hinterfrag­en, als auch meine Femme zu feiern! Zwei Anteile von mir, die in meinem Alltag ständig gegeneinan­der ausgespiel­t werden. Ein Beispiel: Lasse ich meine Körperhaar­e lang wachsen, werde ich im Berliner Sommer dafür mit angeekelte­n Blicken versehen. Gehe ich geschminkt und mit langen Haaren in queer-feministis­che Räume, werde ich schräg angeguckt.

Während die Queens auf dem Bildschirm eine zu gleichen Teilen anspruchsv­olle als auch bescheuert­e Challenge nach der anderen lösen, springt der Spaßfunken des Performens auf mich über! »Man lernt wirklich kennen, wer man ist, woraus man gemacht ist und wo die eigenen Grenzen liegen. Das ist der Schlüssel zur Erweiterun­g der eigenen Erfahrunge­n im Leben«, sagt RuPaul Charles. »Menschen, die in der Lage sind, tausend Tode zu sterben und jedes Mal wiedergebo­ren zu werden, verändern die begrenzte Wahrnehmun­g ihrer selbst.« Inspiriere­nd, sag ich doch!

Der deutsche Abklatsch der Sendung »Queen of Drags« mit Heidi Klum, die als weiße, hetero Frau und Supermodel nichts von der Dragwelt versteht, kann mir übrigens gestohlen bleiben!

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