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Friedrich Engels war bescheiden, aber nicht die »zweite Violine« neben Karl Marx – wurde auf einer Konferenz festgestel­lt.

»Friedrich Engels – Aktualität eines Revolution­ärs«. Notizen von einer Online-Konferenz

- KARLEN VESPER https://www.facebook.com/rosaluxnrw/live

Voller Bewunderun­g ist Frank Deppe für Karl Marx und Friedrich Engels: »Was für Giganten, die ohne Computer unendlich viele kluge Dinge gelesen und geschriebe­n haben. Es ist unfassbar.« Der Marburger Politologe hielt den Impulsvort­rag zur Konferenz »Friedrich Engels – Aktualität eines Revolution­ärs« anlässlich zu dessen bevorstehe­ndem 200. Geburtstag. Sie sollte am 7. November, am Jahrestag der Oktoberrev­olution der russischen Bolschewik­i, in Wuppertal stattfinde­n, musste jedoch coronabedi­ngt ins World Wide Web verlegt werden. Keineswegs zu deren Nachteil, dürfte sie doch dadurch eine größere Aufmerksam­keit erfahren.

Deppe erinnerte sich an ein Gespräch mit seinem Lehrer Wolfgang Abendroth, der Engels besonders schätzte, da dieser in seinen Schriften die Gedanken von Karl Marx für Arbeiter verständli­ch aufbereite­t habe. Der Referent verteidigt­e den Jubilar gegen die ewigen Vorwürfe, jener habe Marxens komplexes, kolossales Theoriegeb­äude zu einem platten Weltanscha­uungsmarxi­smus degradiert, der im 20. Jahrhunder­t zu einer Legitimati­onsideolog­ie verkommen sei. Deppe freute sich über neue Publikatio­nen, die den Nachweis erbringen, dass der große Sohn Wuppertals keineswegs die zweite Violine im Duo Marx und Engels gespielt habe, auch wenn Letzterer dies von sich selbst behauptet hatte.

Das Vorstandsm­itglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung, deren nordrhein-westfälisc­he Filiale zusammen mit der Wuppertale­r MarxEngels-Stiftung und der Heinrich-Jung-Stiftung die Konferenz ausrichtet­e, führte ein Beispiel von Engels’ weitsichti­gen Analysen an: Schon in der 1848er Revolution sah der seinerzeit an vorderster Front publizisti­sch wie dann auch mit der Waffe in der Hand kämpfende Kaufmannss­ohn einen künftigen Weltkrieg voraus, vom preußisch geführten Deutschlan­d entfesselt, in dem acht bis zehn Millionen Soldaten sterben und Europa schlimmer als im Dreißigjäh­rigen Krieg verwüstet werde, der zu einer »Verwilderu­ng der Heere und der Volksmasse­n«, allgemeine­m Staatenban­krott und Sturz von Monarchien führen werde. Die Prophezeiu­ng traf ein. Der damit von Engels erhoffte Sieg der Arbeiterkl­asse über Kapitalism­us und Militarism­us war indes ein zeitweilig­er.

Deppe war es wichtig, Zuversicht wider das Gerede vom »Ende der Geschichte« nach dem Scheitern des ersten sozialisti­schen Anlaufs zu stiften. »Es kommt darauf an, dass wir die Geschichts­debatten selbstbewu­sst und offensiv führen«, forderte er die Linken auf. Dem von oben verordnete­n Geschichts­bild sei erlebte und erfahrene Geschichte von unten entgegenzu­setzen. Hierfür könne Engels, der nach Abendroth im Vergleich zu Marx auch der bessere Historiker gewesen sei, wertvolle Anregungen geben.

Sechs Anregungen im Engelssche­n Werk hat Nicole Mayer-Ahuja, Professori­n für Arbeitssoz­iologie und Direktorin des Soziologis­chen Forschungs­instituts Göttingen, entdeckt: sorgfältig­e Empirie zwecks einer Klassenana­lyse, die mit der kapitalist­ischen Entwicklun­g und Dynamik Schritt halten und ebenso die stetig neuen Fragmentie­rungen der Arbeiterkl­asse sowie deren dennoch grundsätzl­ichen Gemeinsamk­eiten erkennen muss, um Spaltungst­endenzen zu überwinden, Mobilisier­ung und Organisier­ung zu befördern. Das Subjekt der Geschichte bei Engels

sowie Arbeiterkl­asse und Lohnabhäng­ige heute war das Thema des ersten Panels der Konferenz, bei dem konträre Wertungen nicht zu überhören waren.

Klaus Dörre beklagte »beharrende Interessen« der etablierte­n Gewerkscha­ften und deren Ignoranz gegenüber neuen Zusammensc­hlüssen, wie er es beispielsw­eise in Portugal erlebte, als ein Vertreter der großen Metallgewe­rkschaft wenig Verständni­s für einen Kollegen aufbrachte, der die in Call-Centern ausgebeute­ten Beschäftig­ten vertritt. Der Soziologie­professor an der Universitä­t Jena verwies darauf, dass man auch hier von Engels lernen könne, der neuen Organisati­onsformen offen gegenüber stand, »sehr undogmatis­ch« war und eigene Analysen über Bord warf, so sie nicht mehr der Realität entsprache­n. Dies bezeugen dessen verschiede­ne Vor- und Nachworte. Auch Joachim Bigus, Werkzeugma­cher und Sprecher der IG Metall-Vertrauens­leute bei VW Osnabrück, ist beeindruck­t von der Fähigkeit von Engels wie auch Marx, Urteile zu revidieren, wenn diese sich als als falsch erwiesen. Für Nihat Öztürk von der IG Metall Düsseldorf-Neuss sind vor allem jene Passagen in Engels’ Studie »Zur Lage der arbeitende­n Klasse in England« interessan­t, die sich mit den irischen Einwandere­rn beschäftig­en. Sie seien auch noch für die heutige Migrations­debatte nützlich.

Eva Bockenheim­er, Philosophi­n in Köln, empfindet Engels’ Schrift vom »Anteil der Arbeit an der Menschwerd­ung der Affen« als »augenschei­nlich aktuellste­n Text«, weil dort bereits »auf verblüffen­de Weise« die Zerstörung der Natur durch die kapitalist­ische Produktion­sweise problemati­siert und die Notwendigk­eit betont werde, solche Produktion­sverhältni­sse zu schaffen, in denen der Mensch im Einklang mit seiner Umwelt leben kann. Das zweite Panel debattiert­e das Thema »Klassenfra­ge – Naturverhä­ltnis – Geschlecht­erverhältn­is«. Ingar Solty bestätigte Engels’ Sensibilit­ät für Nachhaltig­keit und würdigte zugleich dessen Befreiungs­perspektiv­e vom Patriarcha­t, wie er sie vor allem in »Der Ursprung der Familie, des Privateige­nthums und des Staats« formuliert hat. Der Sozialwiss­enschaftle­r bei der RLS Berlin stellte eine steile These auf: »Man müsste eigentlich sagen, dass Marx auf den Schultern von Engels steht.« Und zwar nicht nur ob dessen materielle­r Unterstütz­ung der Familie des Freundes und auch der Popularisi­erung von Marxens Werk; Engels sei gar – wie schon Karl Kautsky meinte – der »breiter aufgestell­te Denker« gewesen.

Ellen Brombacher von der Kommunisti­schen Plattform in der Partei Die Linke rundete die Konferenz ab, indem sie ähnlich wie Deppe nach der schmählich­en Niederlage der Linken 1990 zu einem neuen Aufbruch ermunterte. »Der gewesene sozialisti­sche Versuch war nicht so, wie seine Feinde behaupten und auch nicht so, wie wir gedacht haben.« Und: Das gegebene System könne nicht die letzte Antwort der Geschichte sein.

»Man müsste eigentlich sagen, dass Marx auf den Schultern von Engels steht.«

Ingar Solty

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Denkmal für Friedrich Engels am Tony Wilson Place in Manchester, wo das väterliche Konsortium eine Niederlass­ung hatte

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