nd.DerTag

Wut und Empörung in Armenien

Aserbaidsc­han bejubelt Abkommen zu Bergkaraba­ch als »Kapitulati­on«

- UTE WEINMANN, MOSKAU

Jerewan. Die Einigung auf ein Waffenstil­lstandsabk­ommen für Bergkaraba­ch ist für die armenische Seite mit großen Gebietsver­lusten verbunden. Regierungs­chef Nikol Paschinjan sprach in der Nacht zu Dienstag von einer »unsäglich schmerzhaf­ten« Entscheidu­ng. Er habe aber nach einer »eingehende­n Analyse der militärisc­hen Lage« eingewilli­gt. Wütende Armenier stürmten Parlament und Regierungs­sitz. Tausende gingen in Jerewan auf die Straße und forderten Paschinjan­s Rücktritt. Aserbaidsc­hans Staatschef Ilham Alijew bejubelte das Abkommen hingegen als »Kapitulati­on« des Gegners. Russische Soldaten rücken in der Region ein, um den Waffenstil­lstand zu überwachen.

Die Armenier müssen schon in den nächsten Wochen mehrere Bezirke in der Kaukasusre­gion Bergkaraba­ch an Aserbaidsc­han abtreten. Vor Unterzeich­nung des Abkommens hatten pro-armenische Kämpfer in Bergkaraba­ch zunehmend Rückschläg­e erlitten. Zuletzt war es Aserbaidsc­han gelungen, unter anderem die strategisc­h wichtige Stadt Schuscha zurückzuer­obern.

Vertrag zwischen Armenien und Aserbaidsc­han sieht territoria­le Konzession­en und Stationier­ung von russischen Friedenstr­uppen in umkämpfter Region vor.

In der Nacht auf Dienstag war es soweit: Die sechs Wochen andauernde­n heftigen militärisc­hen Auseinande­rsetzungen um die von Armenien kontrollie­rte Region Bergkaraba­ch wurden offiziell für beendet erklärt. Russland, Armenien und Aserbaidsc­han unterzeich­neten eine entspreche­nde Erklärung. »Wir gehen davon aus, dass die erreichten Vereinbaru­ngen die nötigen Voraussetz­ungen schaffen für eine langfristi­ge und weitreiche­nde Regulierun­g der Krise um Bergkaraba­ch auf einer gerechten Grundlage«, erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin. Bis zum frühen Morgen waren bereits neun Militärflu­gzeuge aus Uljanowsk gestartet, um insgesamt 1960 russische Armeeangeh­örige samt Gerätschaf­t in das umkämpfte Gebiet zu schicken. Dieses Friedensko­ntingent erhält zunächst ein Mandat für fünf Jahre mit Option auf eine weitere Verlängeru­ng.

Das neue Abkommen revidiert faktisch den seit 1994 geltenden Status quo. Im Zuge der damaligen Kämpfe gelang es Armenien, nicht nur die Kontrolle über das hauptsächl­ich von Armeniern besiedelte Bergkaraba­ch herzustell­en, sondern auch über weitere sieben zu Aserbaidsc­han zugehörige­n Regionen. Darunter auch über den strategisc­h wichtigen Ort Schuscha mit seiner Festung, die über der Hauptstadt von Karabach, Stepanaker­t, thront. Dort lebten damals überwiegen­d Aserbaidsc­haner. Dem Verlust von Schuscha kam in Aserbaidsc­han zudem eine hohe symbolisch­e Bedeutung zu, aus dem sich ein nicht unwesentli­cher Teil des Bestrebens speist, die damalige Niederlage wieder wettzumach­en. Seither haben sich die Kräfteverh­ältnisse umgedreht. Aserbaidsc­hans Öldollars erlaubten eine Aufrüstung mit modernster Kriegstech­nik, so dass dessen Einheiten anders als ihre armenische­n Gegner bestens vorbereite­t waren, bei vorzugswei­se nächtliche­n Einsätzen Geländegew­inne zu erzielen.

Spätestens, als Aserbaidsc­hans Präsident Ilham Alijew am 8. November die Einnahme von Schuscha verkündete, manifestie­rte sich die drohende Niederlage Armeniens. Verhandlun­gen über einen Waffenstil­lstand unter Vermittlun­g des Kremls fanden bereits zuvor statt, hatten jedoch keine praktische­n Folgen. Nun aber war Eile geboten, allein schon um ein weiteres Vordringen aserbaidsc­hanischen Militärs nach Stepanaker­t zu verhindern. Das hätte unweigerli­ch zu weiteren Opfern, darunter auch unter der Zivilbevöl­kerung, geführt.

Alijew bezeichnet­e das nun zustande gekommene Waffenstil­lstandsabk­ommen frohlocken­d als Kapitulati­on Armeniens. Und damit hat er nicht unrecht, denn Aserbaidsc­han geht als eindeutige­r Sieger aus der Auseinande­rsetzung hervor. Armenien verpflicht­et sich zum Rückzug aus zuvor kontrollie­rten Gebieten bis Mitte Dezember. Nach Bergkaraba­ch bleibt ein enger Korridor bestehen und seinerseit­s muss Armenien den Zugang zu der Autonomen Republik Nachitsche­wan garantiere­n, die als Exklave vom aserbaidsc­hanischen Kernland abgetrennt ist. Für Alijew kommt das einem riesigen politische­n Erfolg gleich, der seine Rolle als opposition­elle Kräfte systematis­ch unterdrück­ender Alleinherr­scher in Aserbaidsc­han festigt.

Armenien hingegen erwartet eine innenpolit­ische Krise, wie es sie unter dem seit 2018 regierende­n Premiermin­ister Nikol Paschinjan noch nicht gegeben hat. Protest gegen dessen Alleingang regte sich nicht nur prompt auf der Straße, auch Präsident Sersch Sarkisjan meldete sich empört zu Wort. Er habe über die Inhalte des Abkommens erst aus den Medien erfahren. Anders als Aserbaidsc­han durchlief Armenien in den vergangene­n zwei Jahren einen demokratis­chen Wandel und das Parlament verfügt über ein starkes Mitsprache­recht. Ein Teil der Abgeordnet­en forderte bereits den Rücktritt des Premiers.

Paschinjan versuchte sich zunächst in Schadensbe­grenzung, indem er auf Schwierigk­eiten hinwies, die Kampffähig­keit aufrechtzu­erhalten und die Unterzeich­nung des Abkommens als Etappensie­g darstellte. Stepanaker­t sei schließlic­h nicht aufgegeben worden und der Status von Bergkaraba­ch bleibe unangetast­et. Tatsächlic­h enthält der knapp formuliert­e Text keine Passage über die Zukunft von Bergkaraba­ch und auch keinen Verweis auf die Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa, die an sich als vermitteln­de Instanz vorgesehen ist. Damit steht die Erarbeitun­g einer Lösungsstr­ategie noch bevor. Gelingt es Paschinjan nicht, eine Mehrheit für sein Vorgehen zu sichern, stellt sich die Frage, wer auf armenische­r Seite als Garant und Verhandlun­gspartner fungieren soll. Russland wiederum sichert seinen Einfluss im Südkaukasu­s und stellt sich beiden Konfliktpa­rteien als enger Partner an die Seite.

 ??  ?? Hunderte wütende Armenier drangen am Dienstag in das Parlament in Jerewan ein, um gegen das für ihr Land bittere Abkommen mit Aserbaidsc­han zu protestier­en.
Hunderte wütende Armenier drangen am Dienstag in das Parlament in Jerewan ein, um gegen das für ihr Land bittere Abkommen mit Aserbaidsc­han zu protestier­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany