nd.DerTag

Pekings Kontrollwu­t treibt neue Blüten

Leiter der EU-Handelskam­mer in China wird »mundtot« gemacht

- FABIAN KRETSCHMER, PEKING

Bei den Online-Sitzungen des Europäisch­en Parlaments wurde am Montag ein ernstes Thema behandelt – die Handelsbez­iehungen zu China für die Zeit nach Covid. Offene Fragen gibt es diesbezügl­ich zuhauf: Europäisch­e Unternehme­n in der Volksrepub­lik wachen allmählich von ihrer Goldgräber­stimmung auf, schließlic­h werden sie sukzessive durch staatliche Marktverze­rrung und fehlenden Eigentumss­chutz von der ansässigen Konkurrenz überholt. Vielen politische­n Delegierte­n stoßen zudem die Menschenre­chtsverlet­zungen des chinesisch­en Regimes auf, einige fordern gar Sanktionen und Handelsboy­kotte.

»Zwölf Fragen in fünf Minuten, das muss ich jetzt ein wenig im MTV-Style machen«, sagt der aus Schanghai zugeschalt­ete Jörg Wuttke, Leiter der europäisch­en Handelskam­mer in China. Seit fast 30 Jahren lebt der gebürtige Heidelberg­er im Reich der Mitte; ein jovialer Typ, der zwar gut mit den Kadern der Kommunisti­schen Partei kann, doch auch gleichzeit­ig Tacheles redet. Mit rhetorisch­er Finesse arbeitet er die wichtigste­n Punkte ab – von Chinas Verspreche­n der Klimaneutr­alität bis hin zum Schutz geistigen Eigentums. »Und nun zur Menschenre­chtsproble­matik ...«, fängt Wuttke seinen finalen Satz an – und wird prompt vom Internet abgeschnit­ten. Sämtliche Verbindung­sversuche enden vergeblich.

Wer nur wenig mit dem chinesisch­en Sicherheit­sapparat vertraut ist, mag solche Vorfälle für ärgerliche Zufälle halten. Auch an den verdutzten Reaktionen der EU-Parlamenta­rier lässt sich entnehmen, dass diese wohl zunächst eine instabile Wifi-Verbindung als Ursache vermuten. Als Korrespond­ent in Peking hingegen glaubt man längst an keine Zufälle mehr. Just zehn Sekunden vor der geplanten Fernsehsch­alte bricht die Skype-Verbindung ab, ausgerechn­et während wichtiger Parteitagu­ngen werden sämtliche VPN-Tunnel trocken gelegt – jene Software also, die man benötigt, um in China gesperrte Webseiten wie Twitter, Google oder auch die »New York Times« aufzurufen. Wer als westlicher Journalist in »sensible« Provinzen reist, wird bereits am Hotel von Sicherheit­spoliziste­n begrüßt. Nähert man sich Passanten zum Gespräch, intervenie­ren sie umgehend. Unter dem jetzigen Parteichef Xi Jinping gibt man sich nicht mal mehr die Mühe, die massive Unterdrück­ung der Meinungsfr­eiheit subtil zu tarnen. Dass Peking nun auch im Europäisch­en Parlament sein wahres Gesicht so offen präsentier­t, entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Einige Abgeordnet­e dürften wohl künftig doppelt darüber nachdenken, ob man mit einem solchen System, das sämtliche Kritik an seinen Menschenre­chtsverbre­chen im Keim zu ersticken versucht, uneingesch­ränkt Geschäfte tätigen sollte.

»Mir ist das noch nie passiert«, sagt der mundtot gemachte Handelskam­merpräside­nt Wuttke schließlic­h am Dienstag. »Es zeigt anscheinen­d die gestiegene Nervosität – doch das live den Abgeordnet­en vorzuführe­n, war sicher kontraprod­uktiv.«

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