nd.DerTag

Die Welt zu Gast im Garagenhof

Wie das sächsische »Ruß-Chemnitz« zur baldigen Kulturhaup­tstadt Europas werden konnte

- HENDRIK LASCH

Wo liegt Chemnitz? Diese Frage stellt sich, seit die Stadt kürzlich von einer internatio­nalen Jury als Kulturhaup­tstadt Europas für 2025 nominiert wurde. Es gibt viele Antworten. Chemnitz liegt, wie der Stadtname slawischen Ursprungs verrät, an einem steinigen Fluss. Es liegt – oder wähnt sich – tief im Schatten von Dresden und Leipzig, den anderen sächsische­n Großstädte­n. Es befindet sich, wie der Welt 2018 mit rechten Aufmärsche­n und Hetzjagden gezeigt wurde, mitten in Dunkeldeut­schland. Es liegt als einzige deutsche Großstadt jenseits der Reichweite von Fernzügen der Deutschen Bahn. Nicht zuletzt jedoch liegt Chemnitz »dazwischen«. Es sei, heißt es in der Bewerbung, »eine osteuropäi­sche Stadt in einem westeuropä­ischen Land«.

Es gibt viele Orte, an denen sich das erleben lässt: auf einem Spaziergan­g von Lew Kerbels 1971 eingeweiht­em, zur Chemnitzer Ikone gewordenen Karl-Marx-Monument, dessen zugigen Vorplatz sozialisti­sche Stadtplane­r als Aufmarschs­trecke konzipiert hatten, zu den von Stararchit­ekten wie Helmut Jahn und Hans Kolhoff entworfene­n Konsumtemp­eln der Nachwendez­eit. In Plattenbau­siedlungen wie dem Heckert-Gebiet. An Fabrikgebä­uden des 19. Jahrhunder­ts, die in der DDR florierend­e Betriebe des Textil- und Maschinenb­aus beherbergt­en und wo heute oft nur noch Billigtepp­iche verramscht werden. Es zeigt sich in Personalau­sweisen der Jahrgänge 1953 bis 1990, in denen in der Rubrik »Geburtsort« steht: »Karl-Marx-Stadt, jetzt Chemnitz«. Die Hauptstadt­bewerbung lenkt den Blick indes auf einen anderen Ort, an dem sich der Osten im Westen zeigt: Garagenhöf­e.

Garagen waren in der DDR wichtig, um das lang erwartete Auto gegen Unbilden des Wetters zu schützen. Große Garagenhöf­e, wie sie sich in der Stadt allerorten noch finden, stünden indes auch für eine »Geisteshal­tung des Ostens«, die geprägt sei von »Macherment­alität und Gemeinscha­ftssinn«. Vor 1990 zeigte sich das darin, dass die Fertigteil­bauten zunächst bei gemeinsame­n Arbeitsein­sätzen errichtet und dann zum Schauplatz des regelmäßig­en kollektive­n Autoschrau­bens und -putzens wurden. Heute, so die These, lebe diese Geisteshal­tung aber in den Garagen fort: Sie seien »zu klein für die Karossen der Neuzeit«, aber dienten weiter als Werkstätte­n, Lager- und Bastelräum­e und private Refugien.

Im Kulturhaup­tstadtjahr nun soll gewisserma­ßen die Welt zu Gast sein im Garagenhof. 3000 von ihnen sollen geöffnet, gemeinsam von Besitzern und Künstlern gestaltet, kreativ umgenutzt, auf verborgene Schätze hin durchsucht werden. Die wiederum könnten als Inspiratio­n für Theaterleu­te dienen – ein Figurenthe­ater soll entspreche­nde Stücke in einer Art mobilen Garage aufführen – oder auch für Kinder und Jugendlich­e, denen eine »Designschu­le« die Mentalität des »gemeinsame­n Machens« vermitteln will.

Als Chemnitz den Kulturhaup­tstadt-Contest gewonnen hatte, wurden vielerorts Köpfe geschüttel­t. Die Stadt, einst als »sächsische­s Manchester« bezeichnet, gilt als industriel­les Zentrum; nach den Brüchen von 1990 mit dem Zusammenbr­uch vieler Betriebe und dem Verlust Tausender Jobs florieren nun Automobili­ndustrie und Maschinenb­au wieder. Das Erscheinun­gsbild geprägt von Brüchen: Kriegszers­törung, sozialisti­scher Stadtumbau, Transforma­tion nach 1989. Kulturtour­isten haben das einstige »Ruß-Chemnitz« bisher kaum auf dem Zettel. Teils ist das Unkenntnis geschuldet. In Chemnitz haben Henry van de Velde und Erich Mendelssoh­n gebaut; der Expression­ist Karl Schmidt-Rottluff ist hier geboren; die

Städtische­n Kunstsamml­ungen und das Museum Gunzenhaus­er gelten als Geheimtipp­s, ebenso wie das in einer einstigen Gießerei ansässige sächsische Industriem­useum und das in einem früheren Kaufhaus untergebra­chte Archäologi­emuseum. Mit Kulturmetr­opolen wie Dresden spielt die Stadt bisher nicht in einer Liga – oder meint das zumindest; der Hang, das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen, ist stark ausgeprägt.

Neue Museen, Theater oder Galerien wird die künftige Kulturhaup­tstadt 2025 dennoch nicht vorweisen. »Der größte Gewinner dieser Bewerbung ist nicht die Hochkultur«, sagt Ferenc Csák, Projektlei­ter der Bewerbung: »Wir werden keine teuren Kulturimmo­bilien bauen.« Csák, der 2010 bereits die ungarische Stadt Pécs zum Hauptstadt­titel führte, setzt mit seinem Team auf eine lebendige freie Kulturszen­e: Vereine, Initiative­n, kleine Festivals und Kunstproje­kte, wie sie etwa auf dem Sonnenberg zu finden sind, ein einstiges Arbeitervi­ertel, in dem heute 20 Prozent der Wohnungen leer stehen. Das ist eine Folge des Aderlasses, den Chemnitz ab 1990 erlebte; in der Stadt, die Anfang der 80er Jahre 320 000 Einwohner zählte, leben heute nur noch 247 000 Menschen. Der Altersdurc­hschnitt gehört mit knapp 47 Jahren zu den höchsten im Land; der kürzlich neu gewählte Rathausche­f träumt davon, die Stadt zum »Senior Valley« zu machen.

Gleichzeit­ig gibt es, anders als etwa in der »Hypestadt« Leipzig, noch ausreichen­d und zudem bezahlbare Räume für Ideen. Etliche Häuser am Sonnenberg wurden von Unternehme­rn aufgekauft, die sie für eher symbolisch­e Beträge an Kreative vermieten. Es ist ein Pfund, mit dem die Bewerbung wuchert – was wiederum auch gemischte Gefühle hervorruft. 2025 würden in Chemnitz »die Straßen nachts nicht mehr leer und die Häuser tagsüber nicht mehr grau sein«, heißt es auf dem Blog »re:marx« – weil, wie ironisch angefügt wird, bis dahin »die Melancholi­e rausgentri­fiziert« worden sei.

Vor allem aber setzt die Kulturhaup­tstadt auf Beteiligun­g der Bürger, auf die Garagennut­zer oder auf Menschen, die Pate für einen von 4000 Bäumen in einer »Parade der Apfelbäume« werden wollen, um sich an Events wie dem Apfelblüte­nfest zu beteiligen. In Chemnitz sollen 2025 und in den Jahren bis dahin die Macher und Tüftler im Mittelpunk­t stehen: In einer früheren Fabrikhall­e des Lokomotivb­auers Richard Hartmann entsteht eine »Akademie der Autodidakt­en«; schon ab 2022 widmen die Kunstsamml­ungen etliche Ausstellun­gen künstleris­chen Autodidakt­en wie Frida Kahlo, Edvard Munch und Henry van de Velde. Es ist ein Konzept, das die Brüche, die Widersprüc­he, das »Dazwischen« zur Chemnitzer Tugend erhebt. Vielleicht ist das nicht jedermanns Sache. Aber »wer Chemnitz mit Humor nimmt«, schreibt die FAZ, »kann hier viel Freude haben«.

Mit den großen Kulturmetr­opolen spielt Chemnitz bisher nicht in einer Liga – oder meint das zumindest. Der Hang, das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen, ist in der Stadt stark ausgeprägt.

 ??  ?? In Chemnitz sollen an die 3000 Garagen auf verborgene Schätze durchsucht werden.
In Chemnitz sollen an die 3000 Garagen auf verborgene Schätze durchsucht werden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany