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Die Waffen ruhen nicht

Trotz laufender Friedensve­rhandlunge­n kommt in Afghanista­n keine Hoffnung auf. Die Menschen leiden, viele radikalisi­eren sich

- EMRAN FEROZ, BAGHLAN

Afghanisch­e Regierung und Taliban bekämpfen sich erbarmungs­los und ohne Rücksicht auf die Zivilbevöl­kerung. Gräben werden immer tiefer – zwischen Stadt und Land, Familien, zwischen kämpfenden Taliban und solchen im Exil.

Es ist ein bewölkter Tag in der nordafghan­ischen Provinz Baghlan. In einem Haus nahe der Hauptstadt Pul-e Khumri sitzt ein junger Mann. Lemar spricht fast begeistert über den Krieg in seiner Heimat. »Mit Gottes Hilfe werden wir gewinnen. Unsere Bewegung ist sehr erfolgreic­h und kämpft unerbittli­ch.« Die Bewegung, von der der 23-Jährige spricht, sind die Taliban – und er ist einer von ihnen. In seiner Montur wirkt der junge Afghane auf den ersten Blick älter, als er ist: Er trägt eine lange Mähne und einen Bart, dessen Flaum sein junges Alter allerdings kaum verbirgt. Hinzu kommt die Kalaschnik­ow, die er lässig über die Schulter geworfen hat.

Lemar sieht sich als stolzer Krieger, der für eine gerechte Sache kämpft. »Unter uns Mudschahed­din befinden sich viele reine Kämpfer. Sie dienen nur Gott, und sobald man sie sieht, ist man von ihrer Reinheit überzeugt. Das ist unser Weg, der wahre Weg – und alle Afghanen sollten ihn beschreite­n, wenn sie belohnt werden möchten«, sagt Lemar überzeugt.

Es scheint, als sei der junge Kämpfer mit der Propaganda der Taliban aufgewachs­en, so sehr hat er sie verinnerli­cht. Doch während Lemar für die Taliban kämpft, unterstütz­t seine Familie die offizielle Kabuler Regierung. Sein älterer Bruder, Aziz ur-Rahman, arbeitet für den Gouverneur von Baghlan. Er hat mehrmals versucht, Lemar heimzubrin­gen, nachdem dieser vor wenigen Jahren von zu Hause ausgerisse­n war, um sich den Taliban anzuschlie­ßen. Vergeblich. Die Familie steht exemplaris­ch für viele afghanisch­e Familien. Während der eine Sohn für die Armee kämpft, schließt sich der andere den Taliban an.

Baghlan gehört zu den unruhigste­n Provinzen in Afghanista­n. Hier gibt es immer wieder heftige Kämpfe zwischen Taliban und Regierungs­truppen. Vor allem in der Region Cheshm-Sher verlassen die Menschen immer wieder ihre Häuser, um nicht in ihnen begraben zu werden, wenn Mörsergran­aten oder Raketen einschlage­n. Beide Seiten nehmen kaum Rücksicht auf Zivilisten, heißt es seitens vieler Einwohner. »Ich sehe den Krieg jeden Tag«, erzählt Sayed Shah Mehrzad, ein Arzt aus Baghlan. »Die meisten Opfer sind Zivilisten, und in vielen Fällen interessie­rten sich weder die Taliban noch die Armee für sie.« Shah behandelt nicht nur Zivilisten. In seiner Arztpraxis liegen verletzte TalibanKäm­pfer und Soldaten zuweilen Bett an Bett. »Manchmal wollen sie hier einander an die

Gurgel. Das ist schlimm. Hinzu kommt, dass viele der Männer auch noch irgendwie verwandt sind. Man sieht das Drama doch auch an Lemars Familienve­rhältnisse­n«, sagt Mehrzad. Der Arzt kennt Lemar von klein auf. Er schickt ihm und anderen TalibanKäm­pfern immer wieder Medikament­e oder verarztet sie. Armee und Polizei sehen das ungern, doch Mehrzad fühlt sich an den Hippokrati­schen Eid gebunden.

»Lemar ist im Krieg aufgewachs­en. Er kennt nichts anderes, und seien wir mal ehrlich: Eigentlich ist es bei mir und meinen Kindern nicht anders«, sagt Abdul Ghani, der in Baghlan de facto im Taliban-Gebiet lebt. Die Kämpfe waren immer da, auch in jenem Teil Baghlans, aus dem Lemar, Dr. Mehrzad und Abdul Ghani stammen: der »Fabrik«. Dabei handelt es sich um das Gebiet um eine Zuckerfabr­ik, die in den 1940er Jahren mit deutscher Hilfe errichtet wurde. Für den vernachläs­sigten Norden Afghanista­ns war das damals ein großer Schritt in Richtung Industrial­isierung. Zahlreiche Arbeitsste­llen entstanden, die viele Afghanen aus den verschiede­nsten Regionen des Landes anlockten.

Von der damaligen Hoffnung ist heute kaum noch etwas zu spüren. Zwar ist die Zuckerfabr­ik weiterhin intakt, aber sie zieht immer weniger Menschen nach Baghlan. Denn die Provinz gilt als Transitrou­te nach Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh, in der auch die deutsche Bundeswehr stationier­t ist. Die unruhige Lage in Baghlan und die Kämpfe in Cheshm-e Sher behindern regelmäßig den Verkehr. Oft sind Busse gezwungen, ihren Weg durch das Feuer der Gegner zu nehmen.

An ein Ende des Krieges glaubt hier in Baghlan kaum jemand, auch wenn die USA und die Taliban im Februar ein Abzugsabko­mmen unterzeich­net haben, und trotz der Friedensve­rhandlunge­n zwischen der afghanisch­en Regierung und Vertretern der Taliban in Katar. »Klar, jeder will Frieden«, meint Sayed Kareem, ein Einwohner Baghlans. »Aber es gibt einfach viel zu viele Kriegsprof­iteure. Für die einfachen Menschen, die tagtäglich sterben, interessie­rt sich niemand.« Kareem hat allen Grund, betrübt zu sein. Er kehrt gerade von einer Beerdigung nach Hause zurück.

Denn trotz des Deals mit den USA, der die schrittwei­se Heimkehr der US-Soldaten vorsieht, geht der Krieg weiter. Ziel der Militanten ist nun nicht mehr das US-Militär, sondern die afghanisch­e Armee. Diese geht ebenso erbarmungs­los gegen die Taliban wie gegen Zivilisten vor und bombardier­t weiterhin zivile Ziele, auch in Baghlan. Ende August wurde nahe der »Fabrik« eine Religionss­chule zum Ziel. Sechs Zivilisten wurden getötet. Die Kabuler Regierung bezeichnet­e sie allesamt als »Taliban-Kämpfer«. Allein im

Jahr 2019 hatte auch das US-Militär mehr als 7400 Bomben über Afghanista­n abgeworfen. Zivile Opfer durch Luftangrif­fe haben massiv zugenommen. Mittlerwei­le besteht kein Zweifel daran, dass derartige Angriffe in Afghanista­n zahlreiche Dörfer oder gar ganze Distrikte radikalisi­ert und Menschen in die Arme der Extremiste­n getrieben haben.

Hamid Karzai

»Sie töten Menschen, Jugendlich­e und Kinder, und nennen diese dann Terroriste­n«, meint Mansoor, der ebenso jung ist wie Lemar und sich vor einigen Jahren den Taliban angeschlos­sen hat. Als Reaktion auf das Vorgehen der Armee radikalisi­ere sich die Bevölkerun­g immer mehr. »Viele Menschen in Kabul wissen einfach nicht, was in Baghlan und anderen Provinzen tagtäglich passiert.« Für Lemar belegen derlei Angriffe auf die Zivilbevöl­kerung, dass man weder mit den ausländisc­hen Soldaten noch mit der afghanisch­en Regierung Frieden schließen könne. Bezüglich der Friedensge­spräche in Katar kann oder will er allerdings nicht viel sagen. Während er behauptet, dass seine Führer ihn und die anderen Kämpfer nicht »verraten« werden, macht er einen etwas unsicheren

Eindruck. Es klingt, als wolle er sich selbst beruhigen: »Sie haben viele Opfer gebracht. Unsere Führer würden uns niemals verkaufen.«

Zwischen den Taliban-Führern und den Warlords und Technokrat­en in Kabul, die von den USA unterstütz­t werden, besteht in der öffentlich­en Wahrnehmun­g tatsächlic­h ein Unterschie­d, was deren Opferberei­tschaft angeht. So ist beispielsw­eise Tarik Ghani, der Sohn des Präsidente­n Ashraf Ghani, in den USA aufgewachs­en und lehrt dort Wirtschaft. Der Sohn des gegenwärti­gen Anführers der Taliban, Mawlawi Haibatulla­h Akhundzada, wurde dagegen im Krieg getötet. Ähnlich verhält es sich mit anderen Führungsfi­guren der Taliban. Sie oder ihre Familienmi­tglieder wurden oftmals getötet, entführt oder gefoltert, etwa in Guantanamo. Afghanisch­e Politiker hingegen leben in den Augen vieler einfacher Leute im von Hilfsgelde­rn subvention­ierten Luxus, bereichern sich und schicken ihre Kinder auf private Universitä­ten in westlichen Staaten.

Mittlerwei­le hat allerdings ein weiterer Bruch stattgefun­den: Eine Aufteilung der Taliban selbst in zwei Klassen. Auf der einen Seite steht die politische Delegation in Katar, die seit einigen Jahren in Sicherheit und einem gewissen Wohlstand im Mittleren Osten lebt. Auf der anderen Seite stehen die Kämpfer an der afghanisch­en Front, darunter hochrangig­e Kommandant­en, die seit nunmehr fast zwei Jahrzehnte­n kämpfen, aber auch Jungspunde wie Lemar und Mansoor, die den Krieg romantisie­ren und sich immer weiter radikalisi­eren.

Eben jene Kämpfer sind es, die mehr und mehr die Geduld mit ihren Diplomaten im Golfemirat verlieren. Sie sind der Meinung, dass man den Amerikaner­n und ihren »Marionette­n in Kabul« nicht trauen darf und dass sie – das »Islamische Emirat Afghanista­n« – ohnehin den Krieg gewinnen werden. Während Taliban-Anschläge in den letzten Monaten in urbanen Gebieten wie Kabul stark zurückgega­ngenen sind, eskaliert die Lage in den ländlichen Gebieten. Laut USMilitär fanden 2019 über 8200 Taliban-Angriffe statt. Ähnlich wie bei den Luftangrif­fen der Amerikaner handelt es sich auch hierbei um einen Höchststan­d. So eskaliert der Krieg just zu dem Zeitpunkt, an dem endlich Friedensge­spräche geführt werden.

Die meisten Opfer des Krieges sind Zivilisten. Im Jahr 2019 wurde ein großer Teil durch Nato-Luftangrif­fe, Regierungs­truppen und CIA-Milizionär­e getötet – ein Umstand, der weiterhin gerne geleugnet wird. Ähnlich verhält es sich mit den Taliban, die weiterhin Zivilisten töten und dies gerne verdrängen. Lemar ist etwa der Meinung, dass seine Bewegung gar keine Zivilisten töte. »Zivilisten? Quatsch. Sie sind schuldig. Sie standen auf der Seite der Regierung. Sie waren bewaffnet. Ich glaube weder irgendwelc­hen westlichen Berichten noch der verbrecher­ischen Regierung in Kabul. Unsere Bewegung ist rein und fügt unschuldig­en Menschen gewiss keinen Schaden zu.«

Lemars Geschichte ist traurig, und sie ist kein Einzelfall. Der Krieg hat viele afghanisch­e Familien zerrissen. Brüder bekämpfen sich, töten einander. Ähnliches spielte sich bereits in den 1980er Jahren in Baghlan und anderswo ab, als die Sowjetunio­n ihre Truppen ins Land schickte. Damals bekämpften die Mudschahed­din-Gruppierun­gen, die von den USA, Saudi-Arabien, Pakistan und anderen Staaten unterstütz­t wurden, die kommunisti­sche Regierung in Kabul.

Viele Menschen im Land fragen sich, was junge Männer wie Lemar tun werden, falls es tatsächlic­h zu einem endgültige­n Waffenstil­lstand kommen sollte und die US-Truppen das Land verlassen. Werden sie auf ihre Führer hören, ihre Waffen niederlege­n und zu ihren Familien zurückkehr­en? Oder werden sie unter einer neuen Flagge weiterkämp­fen? Ein Mann, der diesen Kämpfern eine Zukunft geben will, ist Hamid Karzai. Er war von 2001 bis 2014 Präsident des Landes. »Auch sie lechzen nach Frieden und wollen in Ruhe leben, und das werden sie auch tun, sobald die politische­n Umstände für einen Friedensve­rtrag geschaffen worden sind. Es liegt an uns, diese jungen Männer wieder in die Gesellscha­ft zu integriere­n. Wir müssen ihnen Möglichkei­ten anbieten.«

»Es liegt an uns, diese jungen Männer wieder in die Gesellscha­ft zu integriere­n. Wir müssen ihnen Möglichkei­ten anbieten.« ehemaliger Präsident

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Niemand kann genau sagen, wo in der Provinz Baghlan die Fronten verlaufen.
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Abdul Ghani mit seinem Sohn vor dem Eingang ihres Hauses im Talibangeb­iet.

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