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Selbstbest­immt und kieznah im Alter

Grünen-Fraktion kritisiert Pflegepoli­tik als nicht nachhaltig genug und legt neues Strategiep­apier vor

- CLAUDIA KRIEG

Eine »Pflege-Offensive« fordert die Grünen-Fraktion im Abgeordnet­enhaus. Darin unter anderem enthalten: mehr Mitbestimm­ung aller Betroffene­n und mehr Koordinati­on von Pflegeakti­vitäten in der Hauptstadt.

Die Grünen-Fraktion im Abgeordnet­enhaus will nichts Geringeres, als die Pflegesitu­ation in Berlin umfassend reformiere­n und »von unten« umkrempeln, so Fatoş Topaç. Die Fraktionss­precherin für Sozialpoli­tik und Pflegepoli­tik zeichnet mitverantw­ortlich für ein umfangreic­hes Papier, mit dem genau das vorangetri­eben werden soll. »Es war ein Heidenstüc­k Arbeit«, sagt Topaç zu »nd«.

»Die bestmöglic­he Pflegepoli­tik ist die, die Pflegebedü­rftigkeit erst gar nicht entstehen lässt beziehungs­weise diese hinauszöge­rt«, heißt es in dem Papier mit dem Titel »Pflege neu denken – Pflege stark machen: Für eine gute pflegerisc­he Versorgung und attraktive Arbeitsbed­ingungen in der Berliner Pflege«. Es liegt »nd« exklusiv vor.

In Berlin sind derzeit rund 120 000 Menschen pflegebedü­rftig. Prognosen gehen von bis zu 170 000 Pflegebedü­rftigen bis zum Jahr 2030 aus. Nur rund ein Viertel der Menschen wird in stationäre­n Einrichtun­gen versorgt. 76 Prozent der Pflegebedü­rftigen bleiben, oft auf eigenen Wunsch hin, zu Hause und werden von über 550 ambulanten Pflegedien­sten, rund 200 000 Angehörige­n oder von beiden gepflegt. In Brandenbur­g sind es sogar 82 Prozent. Bei drei Viertel der Fälle sind es Frauen, die pflegen – »eine untragbare Ausbeutung­ssituation«, findet die GrünenPoli­tikerin Topaç. Sie will die Situation von pflegenden Angehörige­n massiv verbessern, vor allem bei Menschen, die soziale Leistungen beziehen. Bei ihnen soll zum Beispiel ein Pflegegeld nicht mehr auf die Hartz IV-Bezüge angerechne­t werden.

Nicht nur, aber gerade in Berlin sind längst nicht ausschließ­lich Menschen betroffen, die in der DDR oder der Bundesrepu­blik geboren wurden und nun in der Region alt werden. Pflege, so heißt es dazu im GrünenPapi­er, betrifft auch immer mehr die am schnellste­n wachsende Bevölkerun­gsgruppe älterer Migrant*innen, zudem aber auch Kinder und Jugendlich­e mit chronische­n Erkrankung­en, Illegalisi­erte, Obdachlose und Geflüchtet­e. Das Pflegesyst­em und die Angebote müssten also inklusiver werden.

Dies dürfte vor allem eine Personalfr­age sein: bis 2030 fehlen 21 400 Pflegekräf­te ambulant und stationär und 2000 Altenpfleg­er*innen. Der Mangel an Fachkräfte­n sei kein Geheimnis, so Topaç. Diesen müsste zugestande­n werden, sich selbstbest­immt in Pflegekoll­ektiven zusammenzu­schließen, um sich selbst im Umfeld organisier­en zu können – ohne Zeitstress, mit Kontinuitä­t und ohne Fluktuatio­n im Team. Dass das geht, zeigten die Beispiele des holländisc­hen Pflegekoll­ektivs Buurtzorg, bei dem mittlerwei­le 10 000 Menschen beschäftig­t sind, oder auch, viel kleiner, das Schöneberg­er Frauen-Pflege-Kollektiv Ambulante Krankenpfl­ege Berlin.

Um die Arbeitsbed­ingungen von Pflegekräf­ten attraktive­r zu machen, sollen Auszubilde­nde

und Ausbilder besser gefördert werden, Azubis beispielsw­eise an Austauschp­rogrammen wie Erasmus teilnehmen können. Für die Beschäftig­ten, die schon seit Jahren unter dem Fachkräfte­mangel leiden, dürfte derzeit die geforderte Verbindlic­hkeit und Verbesseru­ng der Personalbe­messung der wichtigste Punkt in dem grünen Positionsp­apier sein.

Die Bezirke sollen – geht es nach der grünen Pflegevisi­on – umfassend mit Planungsre­chten ausgestatt­et werden, um die Bedarfe in den Kiezen erheben und bearbeiten zu können. In diesem Zusammenha­ng soll auch das Prinzip der Gemeindesc­hwester wiederbele­bt werden.

Fatoş Topaç (Grüne)

Übergeordn­et soll eine zentrale Koordinier­ungsstelle die Vermittlun­g von ambulanten Pflegedien­sten an Pflegebedü­rftige übernehmen. Bisher müssen sich von Pflege Betroffene selbst kümmern, sehr häufig übernehmen Angehörige diese schwierige Aufgabe. Ist die Rede vom »Pflege-Dschungel«, geht es dabei vor allem um hochgradig komplizier­te bürokratis­che Verfahren, was die Beantragun­g von Pflegegeld oder den häufig schriftlic­h ausgetrage­nen Kampf um die Pflegegrad-Einstufung

angeht. Auch im Papier der Grünen heißt es: »Gerade am Anfang brauchen pflegende Angehörige niedrigsch­wellige, wohnortnah­e, kultursens­ible und aufsuchend­e Beratungs- und Unterstütz­ungsangebo­te.«

Dazu sehe man eine neue Generation alter Menschen, die ihr Leben in weiten Teilen selbstbest­immt führen konnten und klare Vorstellun­gen haben, wie sie sich ihr Leben im Alter, aber auch im Pflegebeda­rf vorstellen. Die gegenwärti­gen Entwürfe von Pflegeheim­en oder ambulanten Pflegedien­sten werden diesen Vorstellun­gen nicht mehr gerecht. Andere Wohnformen wie Wohn- und Hausgemein­schaften oder Genossensc­haften würden verstärkt gebraucht.

Das Papier sattelt auf Bestehende­m auf. So entspreche­n die 45 Berliner Pflegestüt­zpunkte, die unter Pflegesena­torin Dilek Kalayci (SPD) ausgebaut wurden, der Idee, die auch im Papier betont wird: Pflege an Bedarfen auszuricht­en und kieznah zu organisier­en, damit die Menschen in ihrem vertrauten Umfeld bleiben können. Trotzdem ist die Kritik insgesamt recht stark: »Mit Blick auf die seit Jahrzehnte­n verschlepp­ten Lösungen ist klar, dass wir neue Wege gehen müssen, da es keine schnellen Lösungen geben wird.«

Die ehemalige Sozialarbe­iterin Topaç jedenfalls will den Mangel nicht länger nur bilanziert sehen. »Wenn es nach mir ginge, würden wir heute einführen, dass Beschäftig­te in der Pflege mit 60 in Rente gehen können.« Um Fachkräfte zurückzuge­winnen, würde das mehr helfen als das Starten von Aufrufen. Man müsse es nur wollen.

»Wenn es nach mir ginge, würden wir heute einführen, dass Beschäftig­te in der Pflege mit 60 in Rente gehen können.«

Sprecherin für Sozialpoli­tik und Pflegepoli­tik

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Alt werden in Kreuzberg: Auch wenn es gemütlich aussieht, ist da noch viel Platz nach oben, findet die Grünen-Fraktion.

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