nd.DerTag

Der Preis geht an: männlich, weiß und hetero

Die Schriftste­llerin Sarah Berger über Körperlich­keit und das notwendige Ende männlicher Dominanz in der Literatur

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Immer wieder liest und hört man, dass Ihre Literatur radikal sei. Warum glauben Sie, wird Ihnen das attestiert?

Das kann ein Kompliment sein und bedeuten, dass meine Literatur in Form und Inhalt in solch besonderem Maße von der Norm abweicht, dass sie etwas von Grund auf erschütter­t. Wenn diese Erschütter­ung primär darin besteht, die cis-heteronorm­ative Ordnung und den darin verankerte­n männlichen Blick auf die Welt ins Wanken zu bringen, kommt das nicht ohne sexistisch­en Beigeschma­ck aus. Ich seziere mit den Mitteln der Poesie sexuelle Situatione­n und Körperlich­keit. Wenn das als radikal bezeichnet wird, nur weil es ungewöhnli­ch ist, sich mit dem Innenleben von nicht cis-männlichen Figuren zu beschäftig­en, ist Radikalitä­t hier weniger eine Aussage über die Qualität meiner Arbeit, als über die Diversität­s- und Perspektiv­enarmut deutschspr­achiger Literatur und Literaturk­ritik.

Was verstehen Sie selbst unter literarisc­her Radikalitä­t?

Für mich bedeutet literarisc­he Radikalitä­t, sich mittels poetischer Ästhetisie­rung so konsequent in einen Sachverhal­t, ein Gefühl, eine Handlung etc. hineinzubo­hren, dass dem allgemeine­n Verständni­s dieses Sachverhal­ts, dieses Gefühls, dieser Handlung eine weitere Dimension hinzugefüg­t, die im Anschluss an die Lektüre nicht mehr wegzudenke­n ist. Diese Dimension kann natürlich auch eine politische sein oder politische Konsequenz­en einfordern. Damit ein literarisc­her Text seine Leser*innen so sehr bewegt, dass sich in ihnen etwas ändert, muss er immersiv sein. Das schafft ein Text nicht nur, indem er beispielsw­eise gesellscha­ftliche Schieflage­n erzählt, sondern das Erzählen selbst muss erschütter­n. Die Fähigkeit, in diesem Sinne radikal zu schreiben, ist demnach keine, die durch das Geschlecht oder die gesellscha­ftlichen Umstände per se gegeben ist. Sie ist auch nicht erstaunlic­her, wenn es sich bei dem Geschlecht um das weibliche handelt, sondern es geht um eine Technik, die sich Autor*innen unabhängig von ihrem Geschlecht aneignen.

In Ihren Texten entziehen Sie sich ohnehin diesen Zuschreibu­ngen, oft bleibt das Geschlecht Ihrer Figuren unbekannt. Welche Herausford­erungen und Möglichkei­ten begegnen Ihnen, wenn Sie so ganz nah an Körpern erzählen und dennoch auf Eindeutigk­eiten verzichten?

Die Konflikte, die aus dem binären Geschlecht­erverständ­nis abgeleitet werden, sind artifiziel­l und unpräzise. Reibung entsteht nicht, weil Menschen aufgrund ihrer Geschlecht­steile unterschie­dlich sind, und schon gar nicht, weil geschlecht­liche Zuschreibu­ngen vermeintli­ch naturgegeb­en sind. Vielmehr befindet sich der Mensch in einem permanente­n Spannungsf­eld aus subjektive­r Wahrnehmun­g und äußerem Erkanntwer­den und auch Anerkanntw­erden. Jedes soziale Miteinande­r, aber auch jeder Versuch, die eigene Identität unabhängig vom sozialen Rahmen zu bestimmen, vollzieht sich innerhalb dieser intersubje­ktiven Bewegtheit. Besonders deutlich erscheint sie mir, wenn ich mich der Körperlich­keit an sich zuwende. Der Körper ist sowohl Resonanzra­um als auch physische Begrenzung des Ichs. Aber auch innere und äußere Projektion­sfläche. Die Dualität aus Körper-Sein und Körper-Haben ist so fundamenta­l – sie anhand der eigenen Körperlich­keit zu erfahren, kann sehr schmerzhaf­t sein. Hier sehe ich großes literarisc­hes Potenzial, und zwar gerade durch den Verzicht auf Eindeutigk­eiten, indem ich das komplexe Verhältnis aus Selbst- und Fremdzusch­reibung offenlege.

Was sagen Sie zu dem Argument, dass gendersens­ible Sprache sich nicht mit ästhetisch­en und literarisc­hen Ansprüchen vereinbare­n ließe?

Dem muss ich widersprec­hen. Gerade im literarisc­hen Schreiben werden ästhetisch­e Ansprüche an Sprache immer wieder neu verhandelt und gängige Regeln gebeugt. So entstehen markante Stile, die dann beispielsw­eise in der Literaturw­issenschaf­t diskutiert werden. Aus meiner Schreibpra­xis gesprochen: Die Umstellung auf einen flüssigen Gebrauch genderneut­raler Sprache war nicht leicht, aber machbar und ist letztlich eine Sache der Gewöhnung. In »bitte öffnet den Vorhang« habe ich bei jedem Text darüber nachgedach­t, was ich eigentlich erzählen will und ob die konkrete Nennung von genderspez­ifischen Begrifflic­hkeiten überhaupt notwendig ist, und bin zu dem Schluss gekommen, dass sich die meisten Geschichte­n mit leichten grammatika­lischen Anpassunge­n auch genderneut­ral erzählen lassen.

Es gibt allerdings Menschen, darunter die sehr prominente Schriftste­llerin J. K. Rowling, die durch den Gebrauch genderneut­raler Sprache die Belange von Frauen verdrängt sehen. Sie positionie­ren sich nicht konservati­v, sondern als feministis­ch und wehren sich etwa gegen Formulieru­ngen wie »Menschen mit Uterus« anstelle von Frau.

Für einige feministis­che Anliegen ist der Begriff Frau zu unpräzise: »Mensch mit Uterus« kann den Begriff Frau semantisch nicht ersetzen, aber es werden trans-, inter- und nichtbinär­e Personen inkludiert, die das Thema je nach Anatomie gleicherma­ßen betreffen kann. Gendergere­chte Sprache schafft durch Differenzi­erung mehr Sichtbarke­it, auch für Frauen und ihre Anliegen. So lassen sich Mechanisme­n der Marginalis­ierung viel präziser analysiere­n und in ihrem Ursprung bekämpfen.

In »bitte öffnet den Vorhang« spricht das Ich von sich selbst als Geschichte­nerzähler*in, das nur lebt, wenn es sich erzählen kann. Die Textfragme­nte in dem Buch werden begleitet von Ihren Selbstport­räts. In »Lesen und Schreien« nutzen Sie wiederum Bilder Ihrer eigenen Social-Media-Accounts. Da liegt es nahe, das Ich Ihrer Werke mit Ihnen als Autorin gleichzuse­tzen, oder?

Für mich ist alles Material. Alles, was ich erlebe; alles, was ich fühle; die Dinge, die ich lese, egal ob es theoretisc­he Texte oder meine privaten Chat-Verläufe sind, und auch mein Körper. Die Frage ist doch nicht, ob ich dieses Ich bin oder ob irgendetwa­s davon real oder wahr ist, sondern was ich damit mache. Cindy Sherman fotografie­rt nur sich selbst, und doch zeigt keines ihrer Bilder die Person Cindy Sherman. Oder Sophie Calle oder Friederike Mayröcker – es gibt eine lange Tradition von Künstler*innen, die ganz nah an sich arbeiten und dabei eine Wirkung in die Welt entfalten. Dennoch werden Schriftste­llerinnen häufig in die autobiogra­fische Ecke gestellt, sobald sie Ich sagen oder ihren Körper zum Thema machen und sich klassische­n Formen entziehen. In »bitte öffnet den Vorhang« habe ich nicht nur die Ich-Form gewählt, sondern thematisie­re in einigen Abschnitte­n auch die Gewalt, die Schreibend­en widerfährt, wenn ihre Arbeit in eine autobiogra­fische Lesart gezwungen und ihnen dadurch Relevanz abgesproch­en wird.

Die Autofiktio­n erlebt aber doch seit einigen Jahren einen regelrecht­en Boom, ebenso wie die digitale Literatur. Inwiefern nehmen Sie diese Abwertung wahr?

Ich sehe diesen Boom nur bei autofiktio­nalen Texten, die wiederum als Roman gelabelt sind und im deutschen Feuilleton dann auch als solche besprochen werden. Ad hoc fallen mir da nur Beispiele männlicher Autoren ein, die dann für ihre brillante Erzähltech­nik oder ihre hohe literarisc­he Kraft gelobt werden. Männlichen Autoren wird automatisc­h literarisc­he Distanz und allgemeine Wirkmächti­gkeit zugesproch­en, egal wie nah sie an sich selbst arbeiten. An anderer Stelle wird das dann als Nabelschau abgetan. Wenn die Protagonis­t*innen solcher Romane dann auch noch regelmäßig ihre Smartphone­s in der

Hand halten und Chatverläu­fe dokumentie­rt werden, gelten diese Texte plötzlich als moderne Internetpr­osa. Dass seit dem Aufkommen des Internets, und noch mal anders seit Social Media, ganz neue Formen des Erzählens entstanden sind und immer weiter entstehen, wird von den großen Verlagen weitestgeh­end ignoriert. Wenn ich mir so anschaue, was verlegt wird, was im Feuilleton besprochen wird, was Preise gewinnt, sind das nicht nur immer noch viel zu viele Texte weißer cis-Männer, es sind vor allem auch klassische Erzählform­en.

Welchen Wunsch an deutsche Verlage und an die Literaturk­ritik leiten Sie daraus ab?

Es gibt nicht besonders viel Raum für Veröffentl­ichungen in Verlagen und Besprechun­gen in Zeitungen. Damit weibliches, aber auch queeres, migrantisc­hes, auch das Schreiben von BPoC (Black and People of Color – Red.) gleichwert­ig stattfinde­n kann, müssen weiße Cis-Hetero-Männer das Feld räumen. Ein legitimes Anliegen – schließlic­h wurde ihren Perspektiv­en in den letzten Jahrhunder­ten übermäßig viel Platz eingeräumt. Es müssten daher auch Schreibtra­ditionen aufgearbei­tet werden, damit deutschspr­achige Literaturg­eschichte nicht mehr nur die Geschichte schreibend­er Männer ist. Im Zuge dieser Aufarbeitu­ng würden dann auch literarisc­he Formen fernab des Romans oder Formen, die gegenwärti­ge digitale Produktion­srealitäte­n widerspieg­eln, mehr Aufmerksam­keit bekommen. Die Longlist des Deutschen Buchpreise­s 2020 war eine erfrischen­de Abwechslun­g hinsichtli­ch Diversität, sowohl was erzähleris­che Perspektiv­en betrifft als auch die Autor*innen selbst. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Vielleicht gelingt es in Zukunft auch, nicht nur Romane zu beachten. Es passiert etwas, aber es gibt noch einiges zu tun.

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Damit künftig mehr migrantisc­he, queere und BPoC-Literatur im Regal steht, müsste der weiße Hetero-Autor öfter mal abtauchen.
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