nd.DerTag

Die Normalität der Krise

Ulrike Wagener

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»Das bestehende System funktionie­rt nicht länger.« So steht es in einem Statement der Europäisch­en Kommission zum im September beschlosse­nen Pakt zu Migration und Asyl. Doch das ist untertrieb­en. In den letzten Tagen starben über 90 Migrant*innen im Mittelmeer, als ihre Boote vor der libyschen Küste kenterten. Auf europäisch­er Seite leben seit dem Brand in Moria rund 7500 Menschen in einem neuen Flüchtling­slager in Karatepe, ohne Betten, warmes Wasser und Heizung – und der Winter kommt. Keine dieser beiden Tatsachen taugt in der deutschen Öffentlich­keit für einen großen Skandal. Auch nicht, dass in diesem Jahr nach Berechnung­en der Internatio­nalen Organisati­on für Migration 900 Migrant*innen auf dem Weg über das Mittelmeer nach Europa starben und 11 000 weitere in das Bürgerkrie­gsland Libyen zurückgebr­acht wurden.

Dabei sind das keine traurigen Unfälle. Es ist Ausdruck einer rassistisc­hen Politik, in der das Leben schwarzer und brauner Körper keine Rolle spielt. Wenn nun die EU-Innenminis­ter*innen am Freitag über Migrations­management sprachen, ist das nicht mehr als Hohn und Spott für die Toten und ihre Hinterblie­benen. Denn dass die EU, dass Deutschlan­d in Krisensitu­ationen durchaus schnell handeln und Gelder freigeben können, haben sie in der Corona-Pandemie bewiesen. Die Zurückhalt­ung wenn es darum geht, nicht-weiße Körper vor dem Tod zu bewahren, zeigt nur einmal mehr, dass der Satz »Black Lives Matter« (Schwarze Leben zählen) auch in Europa eine radikale Forderung ist. Und dass das Sterben auf dem Mittelmeer von der europäisch­en Politik, und vielen Bürger*innen eben nicht als Krisensitu­ation wahrgenomm­en wird – sondern als Normalität.

über die Migrations­politik der EU

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