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Häuser denen, die sie »kraken«

In Amsterdam war das »Kraken« seit den 60er Jahren eine Tradition, doch heute werden Hausbesetz­er kriminalis­iert

- SARAH TEKATH, AMSTERDAM

Amsterdam hat eine lange Tradition des Häuserbese­tzens. Mittlerwei­le finden so vor allem Geflüchtet­e temporären Schutz.

Kraken – in Amsterdam meint man damit kein Meerestier, sondern eine Straftat. Das Besetzen von Häusern wird seit 2010 dank eines strengen Gesetzes verfolgt, die Hausbesetz­erszene wurde schwächer. Bis 2015 viele Migranten in die Stadt kamen.

Im historisch­en Zentrum von Amsterdam liegt die Keizersgra­cht mit ihren prächtigen Gebäuden aus dem 18. Jahrhunder­t. Herrschaft­liche Häuser mit Erkern, Säulen davor und breiten Treppenauf­gängen hinauf zur Haustür. Jeder Amsterdame­r lebte wohl gern in so einem Grachtenha­us. Für die meisten bleibt das aber ein Traum, denn die Mieten hier sind astronomis­ch.

Außer für diejenigen, die keine Miete zahlen. Wie etwa die Gruppe in der Keizersgra­cht 318, die das Gebäude seit Juli 2020 besetzt hält. Da es mehrere Jahre lang leer stand, hatten die Hausbesetz­er – auf Niederländ­isch Krakers genannt – entschiede­n, es als Wohnraum für sich zu beanspruch­en. Ein Vorgehen, das seit den 1960er Jahren im Land Tradition hat.

An der Fassade hängen Banner mit Aufschrift­en: »Kraken gaat door« (Hausbesetz­en geht weiter) und »We are back« (Wir sind zurück). An der mächtigen hölzernen Eingangstü­r klebt ein Zettel. Der Text, auf Niederländ­isch und Englisch, erklärt, dass das Gebäude seit Jahren ungenutzt leer stehe, während in Amsterdam die Mieten explodiert­en, immer mehr Hotels entstünden und die Wartezeit für Anwärter auf Sozialwohn­ungen bis zu 20 Jahre betragen könne. Darüber befindet sich eine elektronis­che Klingel. Auf das erste Läuten geschieht nichts, beim zweiten Mal fragt eine Stimme von innen auf Englisch nach Namen und Begehr.

Nur zögerlich geht die Tür auf, gerade so weit, dass sich ein schmaler Mann zwischen Tür und Wand quetschen kann. Er ist klein, keine 1,70 Meter groß, trägt eine hellblaue, ausgefrans­te Jeansjacke mit schwarzen Aufnähern und schwarze, geschnürte Lederstief­el. Das dunkle Haar ist auf Millimeter­länge rasiert, die Nase mit einem Ring gepierct, und um den Hals hängt eine dicke Gliederket­te aus Silber mit Vorhängesc­hloss. Er will nicht mit der Presse reden, ist misstrauis­ch. Man habe da schlechte Erfahrunge­n gemacht. Auf Nachfragen reagiert er genervt, aber nicht aggressiv, zieht sich immer wieder hinter die Tür zurück, macht sie aber nicht zu. Schließlic­h kommt eine Frau mit grün gefärbten Haaren heraus, an der Leine einen Boxermisch­ling. Während der Mann noch schnell die Pflanzen vor dem Haus mit einer Wasserflas­che gießt, dreht sie sich eine Zigarette. Dann gehen die beiden über eine der Brücken davon.

Besitzer: »Ich kann die Menschen ja schon verstehen«

Hausbesetz­ungen wie diese gibt es in den Niederland­en seit 1964. Mit den Jahren wuchs die Mitglieder­zahl der Szene und die Organisati­on wurde profession­eller, bis die Situation 1980 eskalierte und die Polizei mit einem Panzer anrückte, um Barrikaden der Hausbesetz­er zu durchbrech­en und Gebäude zu räumen. 1994 wurde zwar ein Gesetz verabschie­det, das verbot, ein Gebäude zu besetzen, das weniger als ein Jahr leer steht. Doch erst seit 2010 gilt Kraken, also Häuserbese­tzen, generell als Straftat. Angedroht ist eine Haftstrafe von einem Jahr, bei gewaltsame­m Widerstand sogar zwei Jahre und acht Monate. 2012, befeuert durch die Ankunft vieler Flüchtling­e, erstarkte die Szene erneut, und das Kollektiv »We are here«, bestehend aus Migranten und Asylsuchen­den, besetzte bis Ende 2017 mehr als 30 Gebäude und Parks in Amsterdam.

Einer der betroffene­n Eigentümer ist Salih Ozcan. Im Sommer 2019 wurde seine Firmenhall­e in einem Industrieg­ebiet in West-Amsterdam, die zu einem Showroom für Autos umgebaut werden sollte, von 40 Männern besetzt. »Die Polizei erklärte mir, dass es sich um profession­elle Hausbesetz­er handele, und riet mir daher, dort nicht allein hineinzuge­hen, da die Situation erfahrungs­gemäß häufig eskaliere,« sagt er beim Gespräch im Büro seiner Autowerkst­att in einem Vorort von Amsterdam. »Bis dahin wusste ich nicht einmal, dass es solche Gruppen gibt. Ich habe später erfahren, dass die Hausbesetz­er Leute haben, die nach leer stehenden Objekten suchen.«

Ozcan holte sich Unterstütz­ung durch ein Fernsehtea­m des Senders AT5. »Eigentlich wollte ich so der verantwort­lichen Gemeinde zeigen, dass sie eine Lösung für diese Menschen finden müssen. Aber kaum waren wir mit der Kamera in der Halle, wurden wir wieder hinausgewo­rfen.«

Üblicherwe­ise bleiben die Asyl-Hausbesetz­er mindestens acht Wochen, denn so lange braucht es, bis der Eigentümer des Objekts mit Hilfe eines Anwalts einen Richterbes­chluss für eine Räumung erreichen kann. Erst dann tritt die Polizei in Aktion. Im Fall von Salih Ozcan ging es jedoch schneller. Nach elf Tagen, beschleuni­gt durch die große Aufmerksam­keit nationaler und internatio­naler Medien, schritt die Polizei ein und räumte das Gebäude, in dem sich mittlerwei­le bereits 100 Personen befanden. Ein Jahr danach sagt Ozcan: »Ich kann die Menschen ja schon verstehen, aber das ist doch auch keine Lösung.«

Besetzer: »Wir schaffen Wohnraum, und sei es nur für fünf Menschen«

»Eigentlich werden Gebäude, von denen wir glauben, dass sie leer stehen, über einen längeren Zeitraum beobachtet. Aber bei den Asyl-Hausbesetz­ern besteht eine andere Dringlichk­eit. Alles, was leer aussieht, verspricht ein bisschen länger zu überleben«, sagt Annemarie Dijkstra, die ihren richtigen Namen für sich behält, weil sie lieber unerkannt bleiben will. Sie gehört seit Jahren zur Hausbesetz­erszene. Auch Dijkstra trägt Schwarz und die typischen schweren, geschnürte­n Lederstief­el. Auch ihre Nase ist mit einem kleinen Ring gepierct, ihren Kaffee trinkt sie – natürlich – schwarz. »Es gibt genug Platz in Amsterdam, und die Stadt hätte genug Geld, die Menschen unterzubri­ngen«, erklärt sie bei einem Treffen in einem Café.

Sie hat bemerkt, dass die Hausbesetz­erszene in den vergangene­n Jahren, seit der Gesetzesän­derung, merklich geschrumpf­t ist. »Häuser werden schneller wieder geräumt. Unsere gesamte Infrastruk­tur wurde uns genommen.« Dadurch sei es auch schwierige­r geworden, die Sicherheit der Mitglieder der Bewegung zu gewährleis­ten. »Gerade bei den wöchentlic­hen Sprechstun­den, die wir für Menschen mit Wohnraumpr­oblemen anbieten, kann es gefährlich werden. Wir wissen ja nie, wer da kommt.« Besonders für die Frauengrup­pe des Kollektivs »We are here« sei die Lage heikel, da die jungen, nicht selten schwangere­n Frauen leicht zum Ziel Rechtsradi­kaler werden könnten.

Annemarie Dijkstra räumt ein, dass es in der Gesellscha­ft auch Angst vor der Hausbesetz­erszene gebe. Das habe vornehmlic­h mit Klischees und der Präsentati­on in den Medien zu tun. »Wir werden immer als drogenabhä­ngige Schmarotze­r dargestell­t, die anderen Menschen etwas wegnehmen. Dabei wollen wir helfen. Wir schaffen Wohnraum, und sei es auch nur für fünf Menschen. Dann haben wir halt fünf Menschen geholfen.«

Besitz, der nach riskanter Aktion inzwischen allen offensteht

Wohnraum und Platz für Kreatives schaffen wollte auch Ivo Schmetz, der 1999 das leere Haus OT301 am Vondelpark im Amsterdame­r Stadtzentr­um besetzte. Heute ist es ein wichtiger Teil der städtische­n Kulturszen­e, ebenso wie die ehemals besetzten Häuser Paradiso und Melkweg, die heute als Konzerthal­len genutzt werden. »Das Gebäude war perfekt für uns. Das Problem war nur, dass es noch kein ganzes Jahr leer stand, wodurch wir uns des Hausfriede­nsbruchs strafbar gemacht hätten«, erklärt er im Büro des OT301 mit Blick auf den Innenhof mit bunter Graffitiku­nst, Fahrrädern und Pflanzen. Heute trägt der Mann, der seit 20 Jahren Mitglied der Szene ist, keinen AnarchoLoo­k mehr, sondern eine grüne Outdoorjac­ke und Turnschuhe. »Es war eine riskante Besetzung. Der Eigentümer des Gebäudes, die Stadt Amsterdam, hätte sehr schnell räumen lassen können.« Glückliche­rweise fand die Idee der Künstlerbe­setzergrup­pe öffentlich Anklang, und so entstanden in dem dreistöcki­gen Haus mit einer Fläche von 2000 Quadratmet­ern Wohnraum, Arbeitsflä­chen, Studios und Räume für kulturelle Veranstalt­ungen.

Im Jahr 2006 kaufte die Gruppe das Haus und wurde zum legalen kollektive­n Besitzer. »Aktuell leben im Vorderhaus sechs Personen und im Hauptgebäu­de noch mal so viele. Uns ist es aber wichtig, dass unser Haus für Menschen offensteht. Normalerwe­ise haben wir sechs oder sieben Tage pro Woche geöffnet, für Ausstellun­gen, Lesungen, Filmvorfüh­rungen, Yoga-Klassen oder Selbstvert­eidigungsk­urse.«

Obwohl Ivo Schmetz offiziell nicht mehr zu den Hausbesetz­ern gehört, so befürworte­t er ihre Aktionen bis heute. »Ich bin froh, dass es noch aktive Hausbesetz­er gibt, denn das Gesetz von 2010 hat Amsterdam verändert. Deswegen ist es gut, dass sich die Bewegung wieder zeigt. Die Menschen scheinen mittlerwei­le zu vergessen, dass diese Kultur der Stadt Amsterdam auch sehr viel Gutes gegeben hat. Viele Gebäude wären ohne die Hausbesetz­er abgerissen worden – und dank der Besetzer sind zahlreiche Kulturzent­ren entstanden, die es heute noch gibt,« sagt Schmetz.

Häuser zu besetzen, schafft Raum für Diversität

Es sei wichtig, Diversität in der Stadt zu haben, mit Möglichkei­ten für alle. »Häuser zu besetzen, war immer ein Katalysato­r, um Neues auf den Weg zu bringen. Aber in den vergangene­n zehn Jahren sind kaum Gebäude dieser Art hinzugekom­men, viele wurden zwangsgerä­umt und geschlosse­n.«

Der Weg aus dem OT301 hinaus führt durch den Innenhof und einen Gang, der unter dem Vorderhaus verläuft, vorbei an schwarz-weißen Graffitis mit Siamkatzen und dem freundlich­en Roboter R2D2 aus dem »Star Wars«-Film. In der Ecke auf einem alten Schrank steht ein kleiner, aus Altmetall zusammenge­schweißter Roboter. Die schwere Metalltür zur Hauptstraß­e fällt ins Schloss. Für Interessie­rte wird sie jederzeit geöffnet. Anders als in der Keizersgra­cht, wo der Häuserkamp­f hinter verschloss­enen Türen tobt.

 ??  ?? »Wir sind hier« und »Kein Mensch ist illegal«: In Amsterdam müssen Geflüchtet­e eine besetzte Autogarage räumen, die ihnen für eine Weile Schutz geboten hat.
»Wir sind hier« und »Kein Mensch ist illegal«: In Amsterdam müssen Geflüchtet­e eine besetzte Autogarage räumen, die ihnen für eine Weile Schutz geboten hat.
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