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700 Festnahmen bei Protest in Belarus

Ministeriu­m wirft Demonstran­ten Verstoß gegen Versammlun­gsgesetz vor

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Minsk. Bei den jüngsten Protesten gegen Präsident Alexander Lukaschenk­o sind in Belarus mehr als 700 Demonstran­ten festgenomm­en worden. Sie hätten bei Protesten am Sonntag gegen das Versammlun­gsgesetz verstoßen, teilte das Innenminis­terium am Montag mit. Die Menschenre­chtsgruppe Wjasna hingegen berichtete von mindestens 1200 Festnahmen. Tausende Menschen waren am Sonntag in der Hauptstadt Minsk erneut auf die Straße gegangen, um gegen die umstritten­e Wiederwahl Lukaschenk­os zu demonstrie­ren. Die Polizei ging mit Tränengas und Blendgrana­ten gegen die Demonstran­ten vor.

Bei den Protesten brachten die Demonstran­ten auch ihre Wut über den Tod eines Mitstreite­rs zum Ausdruck, der nach seiner Festnahme am Mittwoch unter ungeklärte­n Umständen zu Tode gekommen war. Infolgedes­sen hatten am Freitag bereits Tausende Menschen in Minsk protestier­t. Sie warfen den Sicherheit­skräften vor, Roman Bondarenko während seiner Festnahme misshandel­t zu haben.

Bis vor Kurzem wurde Belarus als das Silicon Valley Osteuropas bezeichnet. Der Machthaber Alexander Lukaschenk­o prahlte, er habe »ein Paradies« für IT-Leute geschaffen. Richtig so?

Schwer zu sagen, inwieweit es wirklich »ein Paradies« war. Im Großen und Ganzen waren die Arbeitsbed­ingungen dort bis vor Kurzem jedoch recht gut. Die Vereinfach­ung des Steuersyst­ems hat den Sektor aus dem Schatten geholt. Die Unternehme­n haben begonnen, Nettolöhne zu zahlen. Zahlungen unter der Hand, wie sie vor fünf bis zehn Jahren florierten, waren verschwund­en.

Gab es andere Faktoren, die zu den positiven Entwicklun­gen beigetrage­n haben?

Viele junge Menschen haben festgestel­lt, dass diese Branche frei ist und nicht unter Lukaschenk­os Kontrolle. Eigentlich wusste er nicht, wie er es privatisie­ren sollte, und so begann es sich von selbst zu entwickeln. Lukaschenk­o griff nicht viel ein, weil er nicht wirklich verstand, wie der IT-Sektor funktionie­rt. Außerdem kamen einige Gesetze hinzu, die zur Entwicklun­g des Unternehme­rgeistes beitrugen.

Mit dem Ausbruch der Proteste Anfang August kam es zu einer wichtigen Entwicklun­g: Mikita Mikado, der in Kalifornie­n lebende IT-Mogul aus Minsk, kündigte an, dass er rücktritts­willige belarussis­che Polizisten finanziell unterstütz­en werde. Warum hat er plötzlich die Rolle eines politische­n Aktivisten übernommen?

Dazu sollte der Gründer von PandaDoc (ein US-amerikanis­ches Softwareun­ternehmen,

d. Red.) sich lieber selbst äußern. Viele Menschen mit belarussis­chen Wurzeln haben im Ausland große Solidaritä­t mit den Demonstran­ten gezeigt. Dies ist ein natürliche­r

Wunsch von Menschen, die etwas erreicht haben, ihre Grundbedür­fnisse befriedigt haben und jetzt etwas Nützliches für die Gesellscha­ft tun wollen. Jeder, der gegen das Regime ist, hat versucht zu handeln. Mikita beschloss, auf diese Weise seinen Beitrag zu leisten.

Kurz darauf wurden vier Top-Manager der Minsker Filiale von PandaDoc, darunter Ihr Ehemann Wiktor Kuwschinow, in U-Haft genommen. Glauben Sie nicht, dass diese Initiative von Mikado sie – zumindest indirekt – in Gefahr gebracht hat?

Bis zu einem gewissen Grad haben wir das Risiko gespürt. Was uns damals jedoch nicht ganz klar war: wie rachsüchti­g diese Leute sind, die an der Macht sind. Mein Ehemann ist nicht wegen Mikita, sondern wegen des Regimes in Haft gelandet. Die Entwicklun­gen rund um die Strafverfo­lgungsbeam­ten sind in Belarus ein sehr sensibles Thema. Wir dachten, wir müssten das Land vielleicht für eine Weile verlassen (Alexandra Dikan und ihr Sohn befinden sich seit September in Kiew, d. Red.). Wir haben aber nicht damit gerechnet, dass das Strafverfa­hren bereits am 2. September eröffnet wird. Wir schienen bei den Machthaber­n einen Nerv getroffen zu haben.

Alle vier Top-Manager wurden wegen Betrugs »in besonders großem Umfang oder durch eine organisier­te Gruppe« angeklagt. Was bedeutet das ganz konkret?

Ihnen wird vorgeworfe­n, die alte Büroaussta­ttung fälschlich­erweise abgeschrie­ben zu haben und angeblich rund 40 000 US-Dollar (33 874 Euro) an Steuern nicht bezahlt zu haben. Das ist doch absurd. Mehr dazu kann ich aber nicht sagen. Ich kenne die Einzelheit­en nicht, da die Anwälte eine Vertraulic­hkeitsvere­inbarung unterzeich­net haben.

Sie wurden nicht eingehend informiert. Warum sind Sie dann der Meinung, Ihr Mann sei unschuldig?

Mein Mann ist Produktdir­ektor. Er hat mit den buchhalter­ischen, administra­tiven Aufgaben des Unternehme­ns absolut nichts zu tun. Er entwickelt die Apps, arbeitet mit Produktman­agern, mit Programmie­rern. Sein Fall ist politisch motiviert. Es geht um Rache, und zwar auf Lukaschenk­os Befehl: Mikitas

Geschäft und seine Mitarbeite­r waren betroffen. Die belarussis­che Menschenre­chtorganis­ation »Wjasna« betrachtet sie übrigens alle als politische Gefangene.

Drei der vier Verdächtig­en wurden inzwischen im Oktober unter Auflagen freigelass­en, Ihr Mann jedoch nicht. Warum nicht?

In solchen Fällen muss jemand »als Geisel« in Haft bleiben. Das sind die Methoden der belarussis­chen Sicherheit­sdienste. Inzwischen haben sie ihr Ziel erreicht: Mikita hat seine Initiative aufgegeben.

Wie sehen Sie die Zukunft der Proteste? Könnte die IT-Branche doch das Zünglein an der Waage werden?

Nein, das glaube ich nicht. Der Sektor ist klein. Die entscheide­nde Rolle muss jedoch das belarussis­che Volk als Ganzes spielen.

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In ruhigeren Zeiten: US-Außenminis­ter Mike Pompeo besucht am 1. Februar den High Tech Park Belarus in Minsk.

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