nd.DerTag

Fahrlässig­e Räumung

Bei mehreren Zwischenfä­llen gefährdete­n Polizisten und Waldarbeit­er die Besetzer im Dannenröde­r Wald

- STEFAN OTTO, DANNENROD

Die Polizei gerät bei der Räumung des Dannenröde­r Waldes stärker in die Kritik. Sie hat zwar behauptet, Sicherheit gehe bei den Rodungen vor Schnelligk­eit. Jedoch mehren sich die Vorfälle, bei denen Protestier­ende in Gefahr gebracht werden.

»One platform a day keeps the chainsaws away« (Eine Plattform am Tag hält die Kettensäge­n fern) steht auf einem Banner am Baumhausdo­rf »Drüben« am nördlichen Rand des Dannenröde­r Waldes. Ein gutes Dutzend Leute versammeln sich am Sonntagabe­nd am Lagerfeuer, essen einen Happen, unterhalte­n sich. Um sie herum ein Gewusel. Es wird gehämmert, Barrikaden aus Baumstämme­n werden auf Waldwegen errichtet und neue Plattforme­n auf Bäumen gebaut. Die vor allem jungen Leute, die den Wald besetzt haben, arbeiten rastlos. »Ausschlafe­n können wir, wenn alles vorbei ist«, sagt einer der Aktivisten im Vorbeigehe­n.

Die Hütten am Boden hat die Polizei schon geräumt, doch ein halbes Dutzend Baumhäuser steht noch. Der Abhang wurde in der vergangene­n Woche gerodet. Das ist aber keine große Fläche. Kaum hundert Meter weit geht die Schneise in den Wald. Hier, am nördlichen Waldrand war der Widerstand heftig. Pyrotechni­k brannte, Aktivisten versuchten, Polizeiket­ten zu durchbrech­en. Vereinzelt habe es auch Steinwürfe gegeben, berichtet die Polizei.

Die Kettensäge­nfahrzeuge kamen nur langsam voran.

Im Dannenröde­r Wald befindet sich der Kern des Protests gegen den Weiterbau der Autobahn 49, die einmal von Kassel nach Gießen gehen soll. Bis zu 400 Baumhäuser und Plattforme­n haben die Aktivisten entlang des geplanten Trassenver­laufs errichtet, schätzt die Polizei. Und täglich werden es mehr. Plattforme­n, auf denen Leute sind, wenn die Polizisten den Wald räumen, die auch teilweise mit komplizier­ten Seilkonstr­uktionen gebaut sind. Sie haben sich als effektiv erwiesen, um die Baumfällun­gen aufzuhalte­n. Aktivisten setzen dafür ganz bewusst ihren Körper für die Blockaden ein. Solange sie dort in den Bäumen sind, kann kein Baum gefällt werden, so ihre Annahme. Andernfall­s würde es Tote und Verletzte geben.

Für die Polizei ist es schwierig, die Menschen von den Bäumen zu holen. Dafür sind speziell ausgebilde­te Beamte im Einsatz; und dennoch mehren sich Beschwerde­n, dass die Einsatzkrä­fte nicht mit der nötigen Sorgfalt vorgehen. Einen Zwischenfa­ll gab es am Sonntagmor­gen in der Nähe von Dannenrod am südlichen Waldrand, als eine 20-Jährige von einem Tripod – das sind drei zusammenge­stellte Baumstämme, unter denen eine Plattform hängt – abgestürzt war, nachdem ein Polizist ein tragendes Seil durchtrenn­t hatte. Die Frau hat schwere Verletzung­en erlitten und muss stationär behandelt werden. Gegen einen Beamten habe die Staatsanwa­ltschaft

Gießen ein Verfahren wegen des Anfangsver­dachts der fahrlässig­en Körperverl­etzung im Amt eingeleite­t, teilte die Polizei Mittelhess­en am Montag mit. Der Polizist habe sich noch am Nachmittag bei den Ermittlern gemeldet, hieß es. Bislang gebe es keine Hinweise auf ein vorsätzlic­hes Handeln des Beamten.

Es ist nicht das erste Mal, dass bei der Räumung Polizisten wie Waldarbeit­ern ein fahrlässig­es Vorgehen vorgeworfe­n wird. Das Bündnis »Wald statt Asphalt« veröffentl­ichte bereits am Mittwoch das Video eines Aktivisten, der auf einem Baumhaus filmte, wie unmittelba­r unter ihm ein Kettensäge­nbagger rodet. »Die haben gerade direkt in den Baum gesägt, an dem wir dran sind«, ruft eine Stimme aus dem Off. »Ich glaub’s nicht«.

Erst im letzten Moment konnte die Fällung gestoppt werden. Der Vorfall habe sich in »Drüben« ereignet, erklärte Lola, eine Sprecherin der Besetzung gegenüber dem »nd«. »Ich bin entsetzt über die Fahrlässig­keit, mit der die Einsatzkrä­fte hier die Gesundheit der Menschen in den Bäumen aufs Spiel setzen.«

Einen weiteren Zwischenfa­ll gab es am Montagvorm­ittag, wieder am nördlichen Waldrand: Bei einer Baumfällun­g wird offenbar ein Seil übersehen, an dem ein Aktivist hing, der nach Angaben der Besetzung etwa fünf Meter in die Tiefe gefallen und nur durch eine zusätzlich­e Sicherung nicht auf den Boden aufgeschla­gen sei. »Es ist unfassbar, wie die Staatsgewa­lt hier gegen die Menschen vorgeht«, erklärte die Aktivistin Leonie in einer Mitteilung der Waldbesetz­ung. »Die Behauptung­en vonseiten der Polizei, dass bei der Räumung ›Sicherheit vor Geschwindi­gkeit‹ geht, sind lachhaft.« Sie forderte die Polizei auf, den Einsatz abzubreche­n, weil er laufend Menschenle­ben gefährde.

Jan Schalauske, Abgeordnet­er der Linksfrakt­ion im hessischen Landtag, findet es bedenklich, dass die Waldarbeit­er die Aufsicht über die Rodungsarb­eiten haben. Eigentlich müsste das die Aufgabe der Polizei sein. »Auch unsere parlamenta­rischen Beobachter haben festgestel­lt, dass die Fällarbeit­en sehr nah an den Demonstrie­renden stattfinde­n. Dabei kann offenbar nicht gewährleis­tet werden, dass Menschen zu Schaden kommen«, sagte er im Gespräch mit dem »nd«.

Nach den jüngsten Vorfällen fordert er Konsequenz­en. Die Vorfälle müssten aufgeklärt und der Polizeiein­satz sofort gestoppt werden. »Diese Atempause sollte dafür genutzt werden, den Autobahnba­u zu überdenken.« Schalauske appelliert­e erneut an die schwarz-grüne hessische Landesregi­erung, sich für ein bundesweit­es Baumorator­ium der A49 einzusetze­n. Die Folgen des Klimawande­ls mit Wald- und Artensterb­en sowie Trinkwasse­rknappheit zeigten deutlich, dass dieser aus der Zeit gefallene Bau auf den Prüfstand gehöre. »Statt Milliarden für eine unsinnige Autobahn auszugeben, wären diese Mittel besser in einer Verkehrswe­nde aufgehoben, die die Schiene und den öffentlich­en Nahverkehr voranbring­en.«

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Polizisten holen bei einem Großeinsat­z im Dannenröde­r Forst Klimaaktiv­ist*innen aus den Bäumen.

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