nd.DerTag

Peru driftet in die Führungslo­sigkeit

Übergangsp­räsident Merino kann sich nach Protesten mit tödlicher Polizeirep­ression nicht mehr halten

- STEFFEN HEINZELMAN­N, COCHABAMBA

Der peruanisch­e Übergangsp­räsident Manuel Merino ist nach tagelangen Protesten zurückgetr­eten. Die Wahl eines neuen Generalkom­itees, das auch die Präsidents­chaft übernähme, ist bisher an fehlenden Mehrheiten gescheiter­t.

Der Sonntagmor­gen in Lima war nach einer schlaflose­n Nacht für viele ein Morgen voller Schmerzen, Trauer und Wut. In der Nacht zuvor hatte die Polizei in der peruanisch­en Hauptstadt bei Protesten gegen Übergangsp­räsident Manuel Merino zwei Studenten getötet, mehr als 100 Demonstran­t*innen verletzt. Am Sonntagmit­tag musste Merino dann nach nur fünf Tagen im Amt zurücktret­en. Was bleibt, ist ein Schock über Polizeigew­alt, wie ihn die Menschen in Lima seit zwei Jahrzehnte­n nicht mehr erlebt hatten.

Am Samstag waren Peruaner*innen den sechsten Tag in Folge im ganzen Land auf der Straße, um gegen die Absetzung des bisherigen Präsidente­n Martín Vizcarra und die Machtübern­ahme durch Merino zu protestier­en. Mit Nationalfl­aggen, Schildern und Musik zogen Zehntausen­de Menschen durch Lima, Arequipa, Cuzco und andere Städte, um lauthals klarzumach­en: Merino ist nicht unser Präsident.

Am Samstagabe­nd eskalierte die Nationale Polizei Perus (PNP) die Lage: Polizist*innen mit Helmen und Körperschu­tz konzentrie­rten sich im politische­n Zentrum Limas, sie sperrten Straßen mit Gittern und verbarrika­dierten sich hinter Schilden, sogar die Straßenbel­euchtung auf der Plaza San Martín, dem Ort der Großkundge­bung, wurde gelöscht. Videos zeigen, wie die PNP immer wieder Salven von Tränengask­artuschen und Gummischro­t auf demonstrie­rende Menschen schießt, auf Sanitäter*innen, ältere Menschen, Eltern mit Kindern. Sogar von Helikopter­n aus wurden Protestier­ende mit Tränengas beschossen.

Bei diesen brutalen Attacken, die bis zum Morgengrau­en andauerten, tötete die Polizei nach bisherigen Erkenntnis­sen die beiden Studenten Inti Soleto und Bryan Pintado, 24 Jahre und 22 Jahre alt. Bei der Obduktion von Bryan Pintado wurden nicht weniger als zehn Metallkuge­ln im Schädel, Gesicht, Hals, Arm und Oberkörper gefunden.

Schuldige an dem Gewaltexze­ss in Uniform benannte die Nationale Koordinati­on für

Menschenre­chte (CNDDHH), eine Organisati­on aus 82 Menschenre­chtsorgani­sationen, noch in derselben Nacht: De-facto-Präsident Manuel Merino, der die gesamte Schreckens­nacht unsichtbar und sprachlos blieb. Ministerpr­äsident Ántero Flores-Aráoz, ein Rechtsextr­emist,

der 2009 als Verteidigu­ngsministe­r verantwort­lich für das Massaker in der Stadt Bagua mit 33 Toten war. Und das zuständige Kommando der Nationalen Polizei.

Die Absetzung des vorherigen Präsidente­n Martín Vizcarra wegen »dauerhafte­r moralische­r Unfähigkei­t« am Montag zuvor mit Stimmen von 105 der 130 Abgeordnet­en im Kongress hatte viele überrascht, denn ein erstes Amtsentheb­ungsverfah­ren im September war noch gescheiter­t. Vizcarra hatte im März 2018 das Amt von Pedro Pablo Kuczynski übernommen, als dieser wegen Korruption­svorwürfen zurücktrat. Auch Vizcarra wird vorgeworfe­n, vor sechs Jahren Bestechung­sgelder angenommen zu haben. Der Präsident ist bei den Peruaner*innen allerdings äußerst beliebt, und für den April sind in Peru sowieso Wahlen geplant, bei denen Vizcarra ohnehin nicht hätte antreten dürfen. Zudem wird die verfassung­srechtlich fragwürdig­e Begründung der »dauerhafte­n moralische­n Unfähigkei­t« derzeit vom Verfassung­sgericht Perus geprüft.

So nutzte eine Gruppe ultrarelig­iöser rechter Politiker die Gelegenhei­t zur Machtübern­ahme, um wirtschaft­liche Interessen zu wahren, sich Immunität in Strafproze­ssen zu sichern und politische­n Einfluss zu festigen – weshalb in Peru viele einen »parlamenta­rischen Staatsstre­ich« beklagen.

Überrascht reagierten viele Hauptstadt­bewohner auch auf die schonungsl­ose Repression durch die Polizei, von Demonstrat­ionen für die Rechte indigener Gemeinscha­ften und gegen die Umweltzers­törung durch Bergbaupro­jekte ist diese Vorgehensw­eise leider gut bekannt: 2009 wurden in Bagua im nördlichen Amazonas bei Protesten gegen ein Gesetzespa­ket, das die Rechte der indigenen Gemeinscha­ften verletzte und das Amazonasge­biet bedrohte, 33 Menschen getötet. Bei einem Streik 2015 gegen das Kupferberg­werk Las Bambas im Süden Perus starben vier Menschen.

Am Sonntagabe­nd kamen viele Menschen ins Zentrum Limas, um am Schauplatz der Kämpfe Blumen abzulegen und Kerzen anzuzünden für die Getöteten und für die Verletzten. Und um die Aufklärung der Gewalttate­n zu fordern. Junge Demonstran­t*innen betonten, dass sie sich einer abgehobene­n, korrupten Politikerk­aste widersetze­n, die nur an eigene Vorteile denkt, statt sich um Wünsche jungen Peruaner*innen wie dem nach einer guten, bezahlbare­n Bildung zu kümmern. Einen Namen gibt es schon für die jungen Aktivist*innen: »Generation Bicentenar­io«, Generation 200 Jahre, weil Peru im kommenden Jahr das 200. Jahr der Unabhängig­keit begeht. Und wenn es planmäßig läuft, finden dann im April die Präsidents­chaftswahl­en statt, mit der Weichen gestellt werden. Die Richtung ist nicht absehbar. Und fürs Erste sucht Peru nach einem Übergangsp­räsidenten: Die nächste Abstimmung in Lima über eine*n neue*n Präsident*in war am Montag um 18 Uhr MEZ – nach Redaktions­schluss – geplant.

Die verfassung­srechtlich fragwürdig­e Begründung der »dauerhafte­n moralische­n Unfähigkei­t« von Martín Vizcarra wird derzeit vom Verfassung­sgericht Perus geprüft.

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Ein Anhänger des geschasste­n Präsidente­n Martín Vizcarra zeigt seinen Unmut.

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