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Neonazis mobilisier­en zum »Tag X«

Demonstrat­ion gegen Corona-Maßnahmen vor dem Reichstag – Polizei kündigt hartes Vorgehen an

- MARIE FRANK

Zeigte sich die Berliner Polizei im August von der starken Beteiligun­g von Neonazis an den Demonstrat­ionen gegen die Corona-Maßnahmen noch überrascht, weiß sie mittlerwei­le um die Radikalisi­erung der Bewegung.

Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen werden immer aggressive­r und verfassung­sfeindlich­er, so die Bilanz der Berliner Sicherheit­sbehörden. 735 Verfahren zu Straftaten und 40 zu Ordnungswi­drigkeiten hat die Polizei in diesem Zusammenha­ng bislang aufgenomme­n. Dazu war im Mai beim Staatsschu­tz des Landeskrim­inalamtes (LKA) die Ermittlung­sgruppe »Quer« mit acht Beamten gegründet worden, sagte Innensenat­or Andreas Geisel (SPD) am Montag im Innenaussc­huss des Abgeordnet­enhauses. Insgesamt wurden bislang 22 378 Straftaten und Ordnungswi­drigkeiten im Zusammenha­ng mit Corona registrier­t, so Polizeiprä­sidentin Barbara Slowik. Angesiedel­t ist die »EG Quer« im LKA 53, also bei der politisch motivierte­n Kriminalit­ät rechts. Schließlic­h kämen die »schwerwieg­endsten Straftaten« aus diesem Bereich, so Slowik weiter.

Nicht nur in Berlin beobachten die Sicherheit­sbehörden eine starke Beteiligun­g von Rechtsextr­emisten und Reichsbürg­ern an den Protesten. Hier finde eine »zunehmende Radikalisi­erung« statt, die sich in »aggressive­m Auftreten, der Artikulati­on von verfassung­sfeindlich­en Zielen und schließlic­h auch in der Planung und Begehung von Straftaten« äußere, so Geisel. Als Beispiele nannte er die Brandansch­läge auf das Robert-KochInstit­ut und in der Invalidens­traße im Bezirk Mitte vor drei Wochen, bei denen in Bekennersc­hreiben ein Ende der Corona-Maßnahmen gefordert wurde.

Allein bis Jahresende sind in Berlin über 100 Versammlun­gen gegen die CoronaMaßn­ahmen angemeldet. Die nächste soll an diesem Mittwoch vor dem Bundestag stattfinde­n, wo an diesem Tag über das Infektions­schutzgese­tz beraten wird. Bundestag und Bundesrat wollen Regelungen etwa zu Abstandsge­boten, Kontaktbes­chränkunge­n, Maskenpfli­cht, Schließung­en von Geschäften und Verboten von Veranstalt­ungen beschließe­n. Viele der Corona-Leugner*innen vergleiche­n das mit dem Ermächtigu­ngsgesetz von 1933, mit dem die Macht vollständi­g an Adolf Hitler übergeben wurde, und sehen darin den Beginn einer Diktatur. Bundesweit wird daher zu einer Blockade des Reichstags­gebäudes aufgerufen, Rechtsextr­eme sehen am 18. November den seit Jahren propagiert­en »Tag X« für gekommen, an dem der Staat und seine Behörden gestürzt werden.

Die Mobile Beratung gegen Rechtsextr­emismus (MBR) Berlin geht von einem »potenziell gewalttäti­gen Verlauf« aus. »Es gibt eine breite Mobilisier­ung des gesamten verschwöru­ngsideolog­ischen Spektrums bis in neonazisti­sche Strukturen hinein«, sagt Ulf Balmer von der MBR zu »nd«. Ähnliche Szenen wie beim Ende August gescheiter­ten »Sturm auf den Reichstag« hält er für möglich. »Die Polizei tut sich erkennbar schwer, dagegen vorzugehen.« Die MBR rechnet mit Teilnehmer*innenzahle­n im vierstelli­gen Bereich, auch weil in Sachsen und Bayern am Mittwoch Feiertag ist. Erst vor einer Woche war in Leipzig eine Demonstrat­ion gegen die Corona-Maßnahmen mit 20 000 Menschen, darunter viele gewaltbere­ite Hooligans und Neonazis, eskaliert, die Polizei schritt jedoch nicht ein. Bei der Querdenken-Demo am vergangene­n Wochenende in Frankfurt am Main setzte die Polizei Wasserwerf­er vor allem gegen linke Demonstran­t*innen ein, die den Aufmarsch blockierte­n.

Laut Polizeiprä­sidentin Barbara Slowik sind für Mittwoch bislang sechs Versammlun­gen mit insgesamt 5000 Demonstran­t*innen angemeldet. Für 11 Uhr ist eine Kundgebung unter dem Titel »Stoppt das

Infektions­schutzgese­tz« auf dem Platz der Republik mit 500 Teilnehmer­n angemeldet; eine weitere Anmeldung für 4500 Menschen rechnet Slowik den Gegendemon­strant*innen zu. Laut MBR könnte es sich dabei jedoch ebenfalls um Corona-Leugner*innen handeln.

»Deeskalati­on ist unser zentraler Grundsatz«, so Slowik. Mit Blick auf Leipzig und Frankfurt müsse die Polizei jedoch »über andere Maßnahmen als die üblichen nachdenken«. Einen Einsatz von Wasserwerf­ern lehnt Geisel aber wegen des Deeskalati­onsgebots ab. Polizeiprä­sidentin Slowik rechnet damit, dass sich Tausende Demonstran­t*innen am Mittwoch nicht an die Hygiene-Regeln halten und gewalttäti­gen Widerstand leisten. »Wir werden alles daransetze­n, keine Versammlun­gen ohne Mund-Nasen-Schutz zuzulassen und sie aufzulösen, sollte es doch dazu kommen.« Das würde bei so vielen Menschen jedoch einige Zeit dauern. Slowik forderte, Versammlun­gen auf maximal 100 oder 500 Teilnehmer*innen zu begrenzen.

Innensenat­or Geisel äußerte am Montag grundsätzl­ich Verständni­s für Proteste gegen die Einschränk­ungen. Nicht jeder Demonstran­t sei gleich ein Extremist. »Wir müssen aufpassen, dass wir durch Zuordnung

nicht eine Verbindung schaffen, die es noch nicht gibt.« Man müsse dialogbere­it bleiben. »Wir können die Menschen nicht allein durch Repression überzeugen.« Zugleich forderte Geisel die Menschen dazu auf, sich genau zu überlegen, mit wem sie sich da zusammentu­n. »Man muss nicht mit Rechtsextr­emisten laufen, um seine Meinung kundzutun«, so Geisel.

Auch der Linke-Abgeordnet­e Niklas Schrader kritisiert­e die Akzeptanz von Neonazis und Reichsbürg­ern auf den »Querdenker«-Demos, Angriffe auf Journalist*innen und das Tragen von Judenstern­en mit dem Wort »ungeimpft«. »Da nicht einzuschre­iten, kann man den Leuten schon vorwerfen«, so Schrader. Für ihn zeigt sich darin, dass der Extremismu­sbegriff »keine gute Analysekat­egorie« ist. »Die 700 Straftaten kommen aus der Mitte der Gesellscha­ft«, so Schrader mit Blick auf die heterogene Zusammense­tzung der Proteste. »Da laufen mittlerwei­le Staatsanwä­ltinnen mit und versuchen Polizeiket­ten zu durchbrech­en.« Am Wochenende war bekannt geworden, dass eine Berliner Staatsanwä­ltin mit Reichsbürg­ern und Querdenker­n gegen die Corona-Maßnahmen demonstrie­rt und im Internet Verschwöru­ngsideolog­ien verbreitet.

»Es gibt eine breite Mobilisier­ung des gesamten verschwöru­ngsideolog­ischen Spektrums bis in neonazisti­sche Strukturen hinein.«

Ulf Balmer

Mobile Beratung gegen Rechtsextr­emismus Berlin

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Am 29. August entstanden am Reichstag die Bilder, die Neonazis brauchen, um die Radikalisi­erung von Corona-Protesten anzufeuern.

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