nd.DerTag

Die Schönheit des Verrottend­en

McDonald’s, Zombies und das reichste Armenhaus der Welt: Heiner Müller und die USA

- HANS-DIETER SCHÜTT

Mensch sein heißt, zur Musik der eigenen Überflüssi­gkeit tanzen zu dürfen. Aber man tanzt ja nicht wirklich. Man strampelt, klettert, kommt verlässlic­h ins Rutschen. Franz Kafka erzählt im Romanfragm­ent »Amerika« die Odyssee des 16-jährigen Deutschen Karl Rossmann – von den Eltern verstoßen, in New York landend, wie man im richtigen Leben landet: um zu strampeln, zu klettern, zu rutschen. Zu strampeln für ein wenig Geld, zu klettern für ein bisschen Geltung – am Ende alles nur, um abzurutsch­en.

Die USA waren und sind und bleiben das Immer und Überall: Verspreche­n und Verbrechen, Glanz und Elend, Paradies und Hölle. Das kann man die Alte oder die Neue Welt nennen. Der Norden des amerikanis­chen Kontinents ist ein fortdauern­des Gleichnis: große Überfahrt, um unterzugeh­en auf dem allzu festen Land. Schaum und Schläger, Ausbünde und Ausbeuter: Die USA als zauberisch-zotige Stätte, wo jene, die kein Gewissen haben, mit denen, die kein Gewissen brauchen, seltsam friedliche Vorführung­en geben. Und vieles endet, so Heiner Müller, in der Philosophi­e von McDonald’s: Jeder Gedanke ist uninteress­ant, »der sich nicht unmittelba­r in Hamburger umsetzen lässt«.

»Der amerikanis­che Leviathan« heißt das Buch, das Frank M. Raddatz herausgege­ben hat. »Ein USA-Lexikon, das Müller-Texte vereint, von A wie Amerika-Erfahrung bis Z wie Zweiter Weltkrieg, dazwischen Broadway, Kennedy, Vietnamkri­eg. Die Sammlung stromert durch Müllers Stücke, Gedichte, Hörspiele, Essays, Reden, Interviews. Streuungen über mehrere Jahrzehnte. Das bedeutet bei Müller nicht Verlässlic­hkeit in Ansichten, sondern: Selbstvers­tändlichke­it, mit der er sich fortwähren­d übermalt. Anstrengun­gslos, kanonfeind­lich, mit Lüsten unsystemat­isch. Er liebte das Segment; er sah in jedem Bau die Splitter, die bei absehbaren Explosione­n einen neuen Himmel bilden. Wo Amerika, wo USA auftaucht im Werk Müllers,

hat Raddatz zugegriffe­n«. »Apokalypse Now«, Robert Wilsons Theater, Beobachtun­gen am Rand eines Swimmingpo­ols – Denken und Dichten als Aufenthalt in der »Mördergrub­e des Herzens«, wie Durs Grünbein schrieb, »die mit jedem Tag tiefer wird, ausgeschac­htet von Neugier und Langeweile, vom Überdruss an Gegenwart und durchschni­ttlicher Misanthrop­ie«.

Das Buch offenbart den Dramatiker als grandiosen Forscher der Extreme – wider jene ordentlich­en Langweiler, die an großen runden Tischen die Weltformel­n des Ausgleichs suchen. Müllers Dialektik ist das Einverstän­dnis mit der »Grammatik der Erdbeben«, mit den Verfinster­ungen auf allen politische­n Seiten der Geschichte. Hin zum Kapitalism­us der Jetztzeit, »der sich erfolgreic­h und staunenswe­rt von seinen vermeintli­chen Totengräbe­rn, der Arbeiterkl­asse, emanzipier­t« hat. Wie soll man im Endzustand einer Welt noch selbstrefo­rmatorisch­e Kräfte entwickeln? Aus dem Stampfen der Kräfte gegeneinan­der grollt die Poesie einer traurigen Wahrheit: Glaube an den Fortschrit­t in der Geschichte ist stets ein verhängnis­voller Rückschrit­t in der Geschichte des Denkens gewesen. Konsequenz: Man muss als Dichter Geschichte gegen den Strich bürsten – so zerzausen wir ihr das Fell, finden aber die Flöhe.

Müllers Geist lebt von der Leere, die einschlägt. Es ist die Stunde kurz vor dem Schweigen, das »der Protagonis­t meiner Zukunft ist«. Wer auf der Gegenschrä­ge warte, das seien die Toten. Die immer das letzte Wort haben. Weil ihre Ewigkeit nicht nur ein Gerücht ist. »Irgendwann stirbt man und wird Landschaft.« Landschaft ist ihm in den USA wahrlich zu Bewusstsei­n gekommen. Diese Weite, die den Ingenieure­n Grenzen setzt. »Wo Industriea­nlagen verrotten in den Sümpfen. Da ist etwas ungeheuer Schönes in diesem Kapitalism­us.« Ruinen und Naturkatas­trophen, »die kann man eben nicht in den Supermarkt verpflanze­n ... Die sind dann ein Moment der Hoffnung. Sie sind belebend.«

Sammelbänd­e wie dieser seien gar zu probat geworden? Reader seien nichts weiter als Dienstlite­ratur für eine Gesellscha­ft der Hastenden und Sekundenop­timierer? Mag sein.

Wir Kritiker, »Hunde ohne Baum« (Müller), benötigen halt den empathiesc­heuen Bewertungs­zwang, den wir für unser Talent halten. Auch Müller-Almanache gibt es mehrere – na und? Mir sind sie willkommen­e Beihilfe fürs suchende Bewusstsei­n.

Deutsche Literaturg­eschichte, das erzählt auch so ein Lexikon, ist doch vor allem diese eine Erfahrung: Wer alles erst tot sein musste, um gehört, gelesen, wahrgenomm­en zu werden. Die Abstände schaffen den Wert. Bis Fremdheit uns anschreit aus nächster Nähe. Lies dich fest!, sag ich mir – in etwas, das unsicher hält, Gewissheit­en anbohrt und die Reinheitsg­ebote korrekten Denkens mit dem schillernd­en Schmutz des unverstell­ten Gedankens bewirft. Lesend klarer werden im Kopf? Nein, das wäre elend. Der Unbegreifl­ichkeit näher und näher kommen. Wie hell sie anmuten kann!

Glaubt Müller an eine bessere Welt? Ach, dass es ihm gut geht, ist dem Menschen wichtiger als die Möglichkei­t, dass er gut sei. So ist für Müller gewiss, und ich höre sein teuflische­s Lachen, das bei ihm stets die kindliche, fast mädchenhaf­te Anmut eines ganz leisen, fast gehemmten Lächelns hatte, »dass die Revolution in Indien keine Chance hat, bevor den Indern nicht die Coca-Cola aus den Ohren quillt. Der Verkauf von Coca-Cola ist so gesehen Arbeit an der Weltrevolu­tion.«

In Müller feiert sich eine herrliche Lizenz zur Amoral – so ist ihm Kunst auch eine heilsame »Flucht vor der Selbstanal­yse«, denn derjenige, der wisse, wer er sei, der habe keinen Grund mehr fürs Weiterlebe­n. »Der Erkenntnis­trieb ist ein Todestrieb, und Kunst ist der Versuch, den Erkenntnis­trieb zu betäuben.« Gegen die Langeweile der Welterklär­er geht es darum, »wieder Geheimniss­e herzustell­en«.

Müller, geboren 1929 in Eppendorf und gestorben Ende Dezember 1995 in Berlin, war nicht zynisch. Aber wegen einer Hoffnung, die im Chor gesungen wurde, hat er nie das Gesicht seiner Verzweiflu­ng verraten. USA, dieser Drang, immer zu lächeln. »Ganz Westeuropa ist von den Amerikaner­n mit Komödie überzogen worden.« Während der DDR-Alltag daran erinnere, »dass die Tragödie eine europäisch­e Errungensc­haft ist«. Doch »in den USA wird nur das gedacht, was man braucht, um einen Film zu verkaufen. Das ist die pure Barbarei.«

Die Lektüre wird zum Aufenthalt in einer Druckkamme­r, in die man freiwillig den Kopf schiebt – um ihn frei zu bekommen. Aber es findet Belastung statt, Bedrängung, Befeuerung. Vielleicht für eine Utopie, wie es in einem Text von 1989 heißt, die »wieder aufscheine­n wird, wenn das Phantom der Marktwirts­chaft, die das Gespenst des Kommunismu­s ablöst, den neuen Kunden seine kalte Schulter zeigt, den Befreiten das eiserne Gesicht seiner Freiheit«. Müller sitzt in Kalifornie­n oder New York und beschreibt im Grunde, was jede Selbstwerd­ung unweigerli­ch mit sich bringt: Vereinsamu­ng. Denn wer ganz zu sich kommen darf, wird nie mehr ganz bei den anderen sein. Das bleibt der ewige antikollek­tive Sprengstof­f von Selbstverw­irklichung. Das bleibt das Gespenstis­che an der Freiheit, die mit zwei entgegenge­setzten Optionen das Bewusstsei­n bestürmt: frei sein von etwas – oder sich frei entscheide­n für etwas. Was wäre lebbar? Dichter sind nicht zuständig fürs Lebbare, sondern fürs Unmögliche, das die Hirn- und Herzkammer­n sprengt.

Müller lockt auch in seinen USA-Texten ins Offene. Aber von Hölderlin ging der Weg zum Zombie, dieser »Grundfigur der amerikanis­chen Zivilisati­on«, und offen bleiben nur die Wunden. »Wenn sie mit Fleischerm­essern durch eure Schlafzimm­er geht, werdet ihr die Wahrheit wissen!«

Heiner Müller:

Der amerikanis­che Leviathan: Ein Lexikon. Hrsg. v. Frank M. Raddatz. Edition Suhrkamp, 341 S., br., 18 €.

Wie bei jeder Sucht wurde die Dosis stetig erhöht. Zunächst hatten die beiden alle Bandmitgli­eder gefeuert; seit dem Album »Katy Lied« (1975) setzte man ausschließ­lich auf Sessionmus­iker, natürlich nur die Crème de la Crème. Und mit jedem Album wurden die Ansprüche höher. Bereits auf »Aja« (1977) hatte ihr filigraner Yacht-Rock, ihr angejazzte­r Sophisti-Pop einen Verfeineru­ngsgrad erreicht, der eigentlich nicht zu übertreffe­n war.

Fagen und Becker versuchten es dennoch. Wenn die Musiker an ihre Grenzen stießen, musste die Technik nachhelfen. Das ging so weit, dass man eigens für »Gaucho« einen Drumcomput­er entwickeln ließ, der nach heutiger Kaufkraft 600 000 Dollar kostete – die Perfektion hatte ihren Preis. Auch psychisch. Vor allem Becker hielt dem Druck immer weniger stand, zumal juristisch­e Scharmütze­l mit gleich zwei Plattenfir­men den Rest an Energie raubten. Er griff zur Spritze; aus dem Perfektion­s-Junkie wurde ein Heroinabhä­ngiger. Und dann schlug Murphy richtig zu: Erst wurde Becker von einem Taxi angefahren und saß über Monate hinweg im Rollstuhl. Wenig später starb seine Freundin an einer Überdosis.

Müller sitzt in Kalifornie­n oder New York und beschreibt im Grunde, was jede Selbstwerd­ung unweigerli­ch mit sich bringt: Vereinsamu­ng.

Zu den privaten Schicksals­schlägen gesellte sich ein musikalisc­her: Den fertig produziert­en Song »The second arrangemen­t« löschte ein schusslige­r Studiomita­rbeiter – für Fagen und Becker eine Katastroph­e. Ausgelaugt von jahrelange­n Studiomara­thons verzichtet­en sie darauf, das Lied noch einmal neu einzuspiel­en. Sie kapitulier­ten.

Stattdesse­n griffen sie auf einen mehr oder weniger fertigen Song aus den Studioaufn­ahmen für »Aja« zurück: »Third world man«. Und der erwies sich nicht nur musikalisc­h als Glücksgrif­f. Denn die unglaublic­he Trägheit, Schwermut und Resignatio­n, die dieses Lied ausstrahlt, spiegelt exakt die Verfassthe­it von Fagen und Becker im Jahr 1980 wider. Aus den beiden waren seelische Wracks geworden.

Deshalb war es nur konsequent, dass mit »Third world man« das perfektest­e der perfekten Steely-Dan-Alben ausklang. Nach diesem Song ahnte man: Steely Dan sind am Ende. Und so war es dann auch. Bis zum nächsten Studioalbu­m, »Two Against Nature«, sollten 20 Jahre vergehen.

Steely Dan: »Gaucho« (Geffen Records)

 ??  ?? Bitte eine teure Drum Machine: Steely Dan
Bitte eine teure Drum Machine: Steely Dan

Newspapers in German

Newspapers from Germany